Durften Patienten nicht zu „religiösen Handlungen“ veranlassen: Krankenschwestern im Israelitischen Krankenhaus (Foto oben). Heute ist in dem Gebäude (unten) ein Jobcenter untergebracht Fotos: Staatsarchiv Hamburg

Jüdisch, aber überkonfessionell

Nationalsozialismus Der medizinische Standard war hoch, die Konfession egal: Jahrzehntelang versorgte das Israelitische Krankenhaus auf St. Pauli die Hamburger Bevölkerung – bis die Nazis an die Macht kamen. Ein Dokumentarfilm zeigt nun die Geschichte des Hauses

von Frank Keil

Der 31. Dezember 1938 ist kein guter Tag im Leben von Ernst Julius Wolffson. Der Hamburger Arzt ist der Leiter der Abteilung für Innere Medizin des Israelitischen Krankenhauses in der Simon-von-Utrecht-Straße auf St. Pauli. Im November wurde er verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Doch er hat Geld und das wollen die Nazis haben.

Sie lassen ihn wieder frei und verpflichten ihn zum Jahreswechsel die sogenannte Judenvermögensabgabe zu zahlen: 23.600 Reichsmark – in vier Raten. Garniert ist das ­Schreiben mit dem Aufdruck „Fördert den unbaren Zahlungsverkehr, er erspart längeres Warten an der Finanzkasse!“ – daneben das Hakenkreuz. Um das zu zahlen, muss Wolffson nach und nach seine Aktienbestände auflösen und am Ende noch eine fünfte Rate drauflegen. Zugleich wird er zum ärztlichen Leiter des Krankenhauses ernannt und muss das Haus unter schwierigsten Bedingungen leiten, bis er 1943 durch einen systemkonformen Nachfolger abgelöst wird.

Die Geschichte des Israelitischen Krankenhauses auf St. Pauli beginnt in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts. Innerhalb der durchaus selbstbewussten jüdischen Community der Stadt überlegt man, sich an der medizinischen Versorgung der Bevölkerung zu beteiligen und so sein bürgerliches Engagement unter Beweis zu stellen. Es ist schließlich Salomon Heine, Onkel des heute berühmten Dichters Heinrich Heine, der eine Krankenhaus-Stiftung mit den passenden Geldmitteln versorgt, auch zu Ehren seiner Ehefrau Betty. Im September 1843 wird das Haus mit dem Titel „Israelitisches Krankenhaus“ offiziell eingeweiht, im Dezember werden die ersten Patienten aufgenommen.

Innerhalb weniger Jahre etabliert es sich zu einem der damals modernsten Krankenhäuser: Es gibt Wasser-Spültoiletten, die Operationssäle werden ventiliert und durch Tageslicht hell erleuchtet. Dabei ist man strikt überkonfessionell ausgerichtet: „Kein in der Anstalt Aufgenommener darf zu einer religiösen Handlung oder zur Theilnahme an einer solchen gezwungen oder auch nur von Verwaltern, Aerzten und Angestellten veranlasst werden“, heißt es in den Statuten des Krankenhauses.

In den kommenden Jahren baut das Krankenhaus seine chirurgische Abteilung aus, errichtet eine Poliklinik und kann die Anwohnerschaft nun auch ambulant versorgen. Ein eigenes Schwesternheim kommt 1907 hinzu. Wurden 1894 noch 8.285 Patienten versorgt, sind es 20 Jahre später durchschnittlich über 13.000 Menschen. Tendenz kontinuierlich steigend.

Darlehen vom Senat

Bald können 140 Betten belegt werden. Während des Ersten Weltkriegs wird das Haus ein Reserve- und Sonderlazarett; Die finanziellen Folgen, die der Krieg mit sich bringt, fängt das Krankenhaus durch Spenden auf. Immer wieder unterstützen jüdische Unternehmer das Haus großzügig.

Nach dem Krieg kommt eine Entbindungsstation hinzu. Weiterhin sind zwischen 70 und 80 Prozent der Patienten nicht jüdischen Glaubens. Und nicht nur die Bewohner von St. Pauli gehen ganz selbstverständlich ins „Judenkrankenhaus“, wenn es nötig und erforderlich ist.

1931 dann folgt der nächste große Schritt: Ein sechsstöckiger Erweiterungsbau. Auch weil der Hamburger Senat, überzeugt von der Qualität der bisher geleisteten Arbeit, eine Bürgschaft in Höhe von 1,25 Millionen Reichsmark zur Verfügung stellt und bereitwillig Raten stundet, wenn die Einnahmen nicht so ausfallen, wie vorgesehen. Das Haus verfügt nun über 225 Betten. Bis zum 30. Januar 1933.

Dann ist plötzlich alles anders. Innerhalb weniger Wochen wird es nicht jüdischen Ärzten untersagt, ihre Patienten an das Israelitische Krankenhaus zu überweisen, das seinerseits nur im äußersten Notfall nicht jüdische Patienten aufnehmen darf. Bald sind nur noch 50 Prozent der Betten belegt. Koscheres Fleisch muss nach dem Schächtungsverbot kostspielig aus Dänemark importiert werden, die Ausbildung von Krankenschwestern wird verboten.

Zugleich muss das Krankenhaus damit fertig werden, dass Ärzte und Pflegekräfte Deutschland verlassen und emigrieren. Entsprechend wird es immer schwieriger, die Kreditraten an den Senat zurückzuzahlen, der zugleich immer unnachgiebiger auf die Zahlung der Raten pocht. Und die Lage verschärft sich weiter, als 1938 allen jüdischen Ärzten die Approbation entzogen wird. Ein Jahr später kündigt die Stadt Hamburg ihren Vertrag mit dem Haus: Es muss seinen so gut eingeführten Standort auf St. Pauli aufgeben.

Im September 1939 kommt man noch in der Calmann’schen Villa in der Johnsallee im Grindelviertel unter, einer privaten jüdischen Frauen- und Geburtsklinik mit 50 Betten. Drei Jahre später folgt der nächste Umzug: in die Räume des Jüdischen Siechenheims in der Schäferkamps­allee, das zuvor geräumt und deren alte und pflegebedürftige Bewohner nach Theresienstadt deportiert worden waren.

Die verbliebenen Ärzte und Pflegekräfte müssen in der Schäferkampallee eine schreckliche Aufgabe fortführen, die sie schon in der Johnsallee mehr als bedrückte: Wann immer ein Transport gen Osten angesetzt wird, haben sie die Menschen medizinisch zu untersuchen. Schreiben sie einen der ihnen Vorgeführten krank und stufen ihn damit als nicht transportfähig ein, wird ein neuer Name auf die Liste gesetzt.

Ärzte werden deportiert

Zugleich sind sie selbst jederzeit bedroht. Die damalige Krankenschwester Eva Pfeiffer-Haufrect hat später in Zeitzeugengesprächen davon berichtet, dass viele Ärzte und Pflegekräfte ständig potenziell tödliche Veronaltabletten mit sich trugen – für den Fall, dass die Gestapo auftauchen sollte, um sie mitzunehmen. So wie es den Krankenschwestern Rosa Bernstein und Amalie Noa­feld, der Augenärztin Emma Schindler und dem Chirurgen Rudolf Borgzinner widerfahren ist. Bei Kriegsende und der Befreiung sind nur noch wenige Betten mit Angehörigen aus so genannten „Mischehen“ belegt.

Doch wie soll es nach Kriegsende weitergehen? „Trotz der noch völlig unklaren rechtlichen Stellung des Krankenhauses und ungeachtet einer in der Ferne liegenden Wiedergutmachung wollen wir das Krankenhaus erhalten, damit nicht eine so hochherzige Stiftung wie das Heinekrankenhaus sang- und klanglos verschwindet“, formuliert es der damalige Leiter des Krankenhauses, Berthold Hannes. Doch der Weg dorthin ist nicht einfach: Ein Kuratorium wird eingesetzt, mühsam muss geklärt werden, ob die einstige Krankenhaus-Stiftung weiterhin fortbesteht, während eine handvoll Ärzte und Pflegekräfte in der Schäferkampsallee versuchen, ihre Arbeit fortzusetzen.

Auch innerhalb der kleinen jüdischen Community Hamburgs ist man nicht vorbehaltlos positiv gegenüber einer Fortführung des Krankenhauses eingestellt, wie ein Schreiben im Oktober 1954 an den damaligen Hamburger Bürgermeister Kurt Sieveking offenbart: „Wir erlauben uns aber darauf hinzuweisen, dass das Israelitische Krankenhaus heute eine Einrichtung ist und auch in Zukunft sein dürfte, die mit unserer Gemeinde nur in loser Verbindung steht und weit überwiegend Zwecken der Allgemeinheit zu dienen bestimmt ist.“ Und so hätte man lieber eine finanzielle Unterstützung für den Bau einer neuen Synagoge.

Nicht unbedingt offenen, aber zumindest leisen Widerspruch gibt es auch innerhalb des SPD-Senats. So schreibt der Gesundheitssenator Walter Schmedemann im Dezember 1957 an Sievekings Nachfolger, den Bürgermeister Max Brauer: „Es erscheint mir sehr fraglich, ob es vertreten werden kann, für den kleinen jüdischen Bevölkerungsanteil Hamburgs erhebliche Mittel zum Neubau eines Israelitischen Krankenhauses bereitzustellen. Diese Mittel gehen zwangsläufig anderen, meiner Auffassung nach wichtigeren Projekten verloren.“

Doch schließlich können sich die Befürworter einer Fortführung des Krankenhauses durchsetzen und im Mai 1959 erfolgt die Grundsteinlegung für ein neues Gebäude an der Alsterkrugchaussee samt eines neuen Areals, das bis heute fortbesteht.

Und Ernst Julius Wolffson? Er kann nach dem Mai 1945 wieder praktizieren, und er versucht das ihm zuvor geraubte Vermögen zurückzubekommen, stellt einen Antrag auf Wiedergutmachung. Doch die ermittelnde Behörde stellt sich zunächst quer: „Gleichwohl kann schon jetzt erklärt werden, dass Judenvermögensabgaben von den Finanzämtern wie andere Steuern verbucht, vermischt mit anderen Einnahmen an die Reichshauptkasse abgeliefert und dort haushaltsmäßig verbraucht worden sind.“ Von daher gelte: „Durch die Auferlegung der Judenvermögensabgabe ist Ihnen zwar ein allgemeiner Vermögensschaden entstanden, nicht aber sind ihnen feststellbare Vermögenswerte entzogen worden.“

Zum Glück setzt sich diese Rechtsauffassung nicht durch, und Wolfsson erhält sein Geld zurück: „Der Verlust des Antragstellers ist eine unmittelbare Folge der rechtswidrigen Einforderung seitens des Reiches“, wie es in der Urteilsbegründung von 1951 heißt. Was die Hamburger Oberfinanzdirektion nicht davon abhält, – erfolglos – Widerspruch gegen dieses Urteil einzulegen.

Letzte Zeitzeugen

Wer sich für die Geschichte des Israelitischen Krankenhauses interessiert, in dessen Haus später das Ortsamt von St. Pauli unterkam und in dem heute die örtliche Arbeitsagentur ihren Sitz hat, dem empfiehlt sich der gerade fertiggestellte Dokumentarfilm „Den Nazis ein Dorn im Auge“.

Die Idee zu dem Film kam Rudolf Simon, der lange eine psychiatrische Tagesklinik auf St. Pauli leitete und mit seinen Patienten auch Stadtteilrundgänge unternahm – und immer wieder vor dem Gebäude in der Simon-von-Utrecht-Straße stand. Er fing an zu recherchieren, der Filmemacher Bertram Rotermund kam hinzu. Unterstützung gab es vom St.-Pauli-Archiv. Die Landeszentrale für politische Bildung förderte den Film, der sich auf die Suche nach letzten Zeitzeugen macht, die als Kinder im Krankenhaus behandelt wurden.

Dazu kommen Medizinhistoriker zu Wort und Angehörige ehemaliger Ärzte, wie der Neffe von Ernst Julius Wolfsson. Ein besonderes Highlight: ein Interview mit Ingeborg Rapoport, die von 1937 bis 1938 als Assistenzärztin im Krankenhaus arbeitete und die heute über 104-jährig in Berlin lebt.

Nächste Filmvorführung: 17. November, 19.30 Uhr, St.-Pauli-Archiv, Paul-Roosen-Str. 30