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Ein halbes Jahr Muttermilch

GESUNDHEIT Stillen ist die natürlichste Form der Babyernährung. Doch viele Frauen haben gerade in den ersten Wochen Stillprobleme. Spezielle Beraterinnen und Stillgruppen können helfen, das in den Griff zu bekommen

Von Janet Weishart

„Will ich mein Kind stillen?“ Bei dieser Frage werde häufig zu wenig an das Baby gedacht. Das meint Aleyd von Gartzen, die Bundesbeauftragte für Stillen und Ernährung im Deutschen Hebammenverband. Ihr macht es jedenfalls Sorgen, dass der Verbrauch an Muttermilch-Ersatznahrung weltweit jährlich um 8 Prozent steigt und Kinder mit ihren ureigenen Bedürfnissen oft hintanstehen.

Letztlich müsse es die Mutter sein, die entscheide, wie sie ihr Neugeborenes ernähren möchte, sagt indes Corinna Lenné, freiberufliche Hebamme in Berlin. „Aber wir Hebammen empfehlen ganz klar Muttermilch“, so Lenné, die auch zertifizierte Still- und Laktationsberaterin ist. „Stillen ist die normalste und natürlichste Form der Ernährung – und obendrein sehr gesund.“ Zur Weltstillwoche, das dieses Jahr unter dem Motto „Stillen – Fundament für nachhaltige Entwicklung“ steht und morgen endet, hat Lenné wie viele Hebammen bundesweit Informationsflyer rund ums Stillen verteilt und für „stillfreundliche Orte“ geworben.

Denn auch in Berlin gibt es weiterhin Aufklärungsbedarf. So zeigten Untersuchungen vor einigen Jahren, dass zwar rund 95 Prozent der Mütter nach der Geburt stillen, nach zwei Monaten aber nur noch 70 Prozent. Und weniger als ein Fünftel der Frauen stillten ihr Baby ganze sechs Monate lang, so der Hebammenverband. Aber sowohl die Nationale Stillkommission als auch die WHO empfehlen genau dies. Nach Bedarf könne demnach bis zum Alter von zwei Jahren weiter gestillt werden.

Die Argumente dafür sind bekannt: Muttermilch wappnet Kinder nicht nur gegen Allergien, Übergewicht und Diabetes, sondern verringert bei der Mutter auch das Risiko, an Brustkrebs oder Osteoporose zu erkranken. Von Gartzen betont anlässlich der Weltstillwoche: „Stillen ist außerdem nachhaltig: Es belastet die Haushaltseinkommen nicht, ist umweltfreundlich, und vor allem stärkt es eine stabile Mutter-Kind-Beziehung sowie die Kommunikation untereinander.“

Warum die Stillraten dennoch nicht höher liegen? „Oft geben Frauen wegen Stillproblemen auf“, weiß Hebamme Lenné. Sie klagen beispielsweise über wunde Brustwarzen, zu wenig Milch oder die fehlende Anleitung. Zudem behinderten bei Klinikgeburten Eingriffsraten von 80 Prozent, darunter Kaiserschnitte oder Medikamentengaben, gute Stillbeziehungen, so Lenné. Studien belegen seit Jahren, dass vor allem erste Bindungskontakte, auch Bonding genannt, gute Voraussetzung für längere Stillzeiten schaffen.

Dazu gehört, dass das Baby nach der Geburt kontinuierlich Hautkontakt mit der Mutter hat und bald an ihrer Brust saugt. Dabei schüttet das Gehirn der Mutter das sogenannte Kuschelhormon Oxytocin aus, was wiederum die Milchbildung stimuliert. Auch das Stillhormon Prolaktin wird freigesetzt. „Wird dieser Prozess gestört, treten häufig Stillschwierigkeiten auf“, sagt Lenné. „Kliniken mit dem Qualitätssiegel ,babyfreundlich' berücksichtigen dies, unterstützen beim Stillen, füttern bei gesunden Babys nichts zu oder bieten 24-Stunden-Rooming-in für Mutter und Kind an.“ Geschulte Krankenhäuser weisen auch auf die vielen Berliner Stillgruppen hin.

Eine davon leitet Ulrike Sandow, seit 2007 ehrenamtliche Stillberaterin der gemeinnützigen Organisation LaLecheLiga. Sie hat in Prenzlauer Berg bereits fast 3.000 Ratsuchenden geholfen. „Mütter wenden sich an uns, weil positive Stillerfahrungen in ihrer Familie fehlen, da Empfehlungen zur Babyernährung bis in die 80er Jahre komplett anders lauteten.“ Flaschenmilch wurde damals etwa für gesünder und praktischer gehalten. Sandows Selbsthilfegruppe erklärt das Stillen, hilft bei Schwierigkeiten oder Fragen zur Beikost, hat sogar eine eigene Bibliothek und kooperiert wiederum mit Laktationsberaterinnen und Hebammen.

Von der Flasche an die Brust

„Frauen sollten sich bereits in der Schwangerschaft für das Thema Stillen und Babyernährung interessieren, auch um realistische Erwartungen zu haben“, rät Hebamme Lenné. Weil sich die Gesellschaft „glücklicherweise hin zu mehr Nähe, hin zum Stillen verändert“, möchte sie aber nicht polarisieren, sondern „Frauen mit großem Stillwunsch die Hindernisse aus dem Weg räumen“. In ihrer Stillberatung begleitet sie sogar Babys von der Flasche – oft mit Muttermilch – zurück an die Brust. Denn Flaschenbabys wissen gar nicht, wie An-der-Brust-Saugen geht.

Das muss dann erst mal gelernt werden. Doch dieses so genannte Re-Bonding braucht Zeit. Neulich half Lenné damit einer Mutter, die unbedingt stillen wollte, aber deren Baby in der Stillhaltung schrie. „Wir haben darum die Geburtssituation nachgestellt.“ Die Mutter lag also nackt im Bett, während das Baby zunächst gebadet und der Mutter anschließend auf den Oberkörper gelegt wurde. „Das Baby hat erst einmal geweint, dann aber aktiv die Brust gesucht, getrunken und ist danach eingeschlafen.“ Lenné sagt: „Gerade für Mütter, die früh wieder arbeiten gehen wollen, ist stillen zu können auch eine Art seelische Entlastung, weil sie dem Baby dabei ganz viel Nähe und Geborgenheit schenken.“

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