: Lauter Abschied
ORTSTERMIN Hunderte Mitglieder der Hells Angels wohnten der Beerdigung vom Aygün Mucuk bei. Der Gießener Chef des Rocker-Clubs wurde vergangene Woche erschossen
AUS GIEßEN Christoph Schmidt-Lunau
Hunderte Rocker, die meisten in der Kluft der Hells Angels, fuhren am Mittwochmittag am Gießener Alten Friedhof vor und verwandelten den Platz vor der Friedhofskapelle mit ihren röhrenden Motoren in eine Bühne. Sie waren mit schweren Motorrädern und schwarzen Luxuslimousinen angereist, um mit Getöse an der Beerdigung des Gießener Hells-Angels-Präsidenten Aygün Mucuk teilzunehmen. Die Gießener Polizei hatte eigens dafür die Verkehrsführung geändert, zwei Polizeibeamte führten den Konvoi auf ihren Dienstmotorrädern an.
Pünktlich um 14 Uhr startete der lange Trauerzug von der Kapelle aus, vorne die Familie, dahinter Hunderte Rocker aus Deutschland und dem europäischen Ausland. Rockerkollegen trugen den Sarg auf den Schultern, der mit grünem Samt und einer türkischen Fahne geschmückt war. Ziel war das islamische Gräberfeld auf dem überkonfessionellen Friedhof.
Am Grab hatten die Verantwortlichen anfangs Mühe, mit dem Andrang fertigzuwerden. Mehrfach ermahnten sie die Trauernden, hinter den Sarg zu treten: „Männer vorne, Frauen hinten!“ Erst als die erforderliche Ordnung hergestellt war, konnte das islamische Totengebet gesprochen werden. Unter Gesängen und dem Wehklagen der Angehörigen versenkten Mucuks Freunde den in ein Tuch gehüllten Leichnam. In ihrer Grabrede pries die Witwe den Ermordeten als Mann des Friedens. Sie sprach dem unbekannten Mörder ihr Mitleid aus; nach ihrem Glauben erwarte ihn eine gerechte Strafe.
Am vergangenen Freitagmorgen war Mucuk vor dem Haus seiner Rockervereinigung im nahen Wettenberg tot aufgefunden worden. Zuvor waren 16 Kugeln auf ihn abgefeuert worden, Kaliber 9 Millimeter. In dem ehemaligen Bordell hatte sich Mucuk einen Schlafplatz eingerichtet, um seiner Frau und den vier Kindern nächtliche Besuche von Polizei und Hells-Angels-Mitgliedern zu ersparen.
Vier der zehn opulenten Kränze, die nach der Zeremonie auf seinem Grab liegen, zeigen den Schlachtruf der Hells Angels, aus roten und weißen Rosen gebunden: „AFFA“ liest man da, die Abkürzung für „Angels forever, forever angels“. Auf der Schleife eines anderen Kranzes versichern Gangmitglieder: „Niemand wird deinen Platz einnehmen können.“ Doch da irren sie wohl. Vermutlich haben der oder die unbekannten Täter ihren Boss gerade deshalb erschossen, weil sie ihm seinen Platz streitig machen wollen.
Seit Jahren rivalisieren im Rhein-Main-Gebiet „Oldschool“-Rocker mit den „Jungtürken“. Die Szene ist unübersichtlich, aber man weiß, dass sich Nachwuchskräfte, oft türkischer oder kurdischer Abstammung, aus den hierarchischen Strukturen der traditionellen Hells Angels abgelöst und neue Formationen gegründet haben. Einer von ihnen, wahrscheinlich der einflussreichste, war Aygün Mucuk. Zuletzt hatte es zweimal blutige Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Lagern gegeben: Bei einer Schießerei mit Türstehern in einem Frankfurter Club wurden 2014 fünf Menschen verletzt; Mucuk selbst trug damals eine schwere Schussverletzung davon. Im Mai 2016 kam es in der Frankfurter Innenstadt zu einer Schießerei, bei der es zwei Schwerverletzte gab. Noch fehlen die Beweise, doch die Vermutung liegt nahe, dass es auch bei dem Mord an Mucuk um Revierkämpfe in der Türsteherszene ging.
Dass dort viel Geld zu verdienen ist, demonstrierte Mucuc selbst oft und gerne, etwa wenn er im Berliner Luxushotel Waldorf Astoria Journalisten in T-Shirt und Turnhose empfing. Überhaupt zeigte sich der zwei Meter große Mann mit den kurz geschorenen Haaren und der Figur eines Kampfsportlers gern in der Öffentlichkeit – anders als andere Rocker. Über Monate hinweg hat ihn ein Team von Spiegel-TV für eine Dokumentation über die Rockerszene begleitet. Dem Team sagte Mucuk auch lachend, wie er einmal sterben wolle: „Alt und in den Armen einer schönen Frau.“ Und fügte hinzu: „Wenn nicht irgendjemand auf mich schießt.“
Nach der Beerdigung eines Berliner Rockers, der wohl ebenfalls von rivalisierenden Rockern erschossen wurde, fand er für dessen Angehörige tröstliche Worte. Damals sagte er: „Das war eine geile Beerdigung.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen