Die Revolution und das Opium

Film Paris 1968 und Nico: Beides spielt im Werk von Philippe Garrel eine große Rolle. Das Arsenal widmet dem hier kaum bekannten Filmemacher eine Retrospektive

Philippe Garrels Neuanfang nach Nico: Szene aus seinem autobiografisch geprägten Film „L’enfant secret“ (1979/82) Foto: Arsenal

von Carolin Weidner

Es muss dem französischen Filmemacher Philippe Garrel wohl gefallen, dass viele seiner Filme rückblickend einen einzigen ergeben. In ihm tragen Männer ihr Haar länglich und die Hemden weit und flattrig. Gerne auch weiß. Leger eben, Bohème. Das Haar der Frauen ist ebenfalls lang, oft nicht besonders ordentlich, und seine Strähnen verdecken, rahmen, fragmentieren das Gesicht. Je nachdem.

Genauso halten es die Männer und Frauen wiederum auch miteinander, wenn sie sich in den Filmen begegnen: sie rücken so nah aneinander, dass sie sich gegenseitig verdecken; sie gewähren dem anderen einen Rahmen, in dem er sich bewegen (oder nicht bewegen) kann; sie zeigen das Gegenüber in seiner partiellen Reaktion.

Das sind interessante Gemische. Philippe Garrel stellt sie seit 1964 her. Frauen spielten dabei von Anfang an eine gewichtige Rolle – auch als Financiers. Die 25-jährige Sylvina Boissonnas zum Beispiel, Bankierstochter, die zur Mäzenin des losen Künstlerzusammenhangs Zanzibar wurde, dem auch Garrel angehörte. Dank ihrer Großzügigkeit konnten einige erste Filme auf 35-mm-Material entstehen.

Das gilt auch für „La Cicatrice intérieure“ (The Inner Scar) von 1971, Garrels initiale Zusammenarbeit mit Warhol-Superstar und Velvet-Underground-Sängerin Nico, die über zehn Jahre lang seine Lebensgefährtin war. Und dabei weit mehr als das. Nico war Muse, Todesengel, Heroin-Kompagnon. In zahlreichen Varianten mystifiziert sie Garrels Werk. Ein Werk, das sich aus der Befragung unterschiedlicher, doch bestimmter Themen zusammenfügt – und das hierzulande nahezu ungezeigt ist. Zwischen dem 1. und 30. Oktober soll diese Lücke geschlossen werden, wenn das Arsenal der „in Deutschland unbeschriebenen Größe“ Philippe Garrel eine umfassende Retrospektive ausrichtet.

Es geht um Drogen und Selbstmord, um politischen Aktivismus und sein Scheitern. Es geht um konventionelles Glück – Ehe, Kinder – und das Unvermögen, jenes Glück aufrechtzuerhalten. Es geht um die Geister der Vergangenheit, die erscheinen und verschwinden – häufig handelt es sich bei ihnen um frühere Geliebte.

Beinahe wie unter Zwang befasst sich Garrel mit diesen Etüden. Hin und wieder tritt er auch selbst als Rätselnder vor die Kamera, etwa in „Les Baisers de secours“ (Emergency Kisses) aus dem Jahr 1989. Hier ist er Regisseur inmitten der eigenen, wahren Familie, bestehend aus Sohn Louis Garrel und der damaligen Partnerin Brigitte Sy. Als Mathieu möchte er die Liebesgeschichte verfilmen, die sich zwischen ihm und Jeanne (Sy) einst ereignet hat.

Philippe Garrel ist nämlich ein großer Verarbeiter. In einem der Gespräche, die er im Juni 1982 mit dem Schauspieler Gérard Courant führte, erwidert er auf die Frage, ob man sich, um Kunst zu machen, in eine Situation des Ungleichgewichts bringen müsse: „Man muss sich der Kunst bedienen, um im Gleichgewicht zu bleiben. Das ist eine höchst philosophische Art, seine Zeit zu verbringen.“

Garrels Kino ist eines des Ausbalancierens. Autobiografisches wird bei dieser Art des Filmemachens nicht nur verwendet – selbst die Kritik an der eigenen Praxis ist Gegenstand. So entgegnet man ihm in „Les Baisers de secours“ einmal: „Du kannst nicht alle Dinge, die du loswerden willst, in einen Film packen.“ Und in „La Jalousie“ (Jealousy, 2013) muss sich Louis (Louis Garrel) anhören: „Du verstehst deine Figuren, aber nicht die, die um dich sind.“ Louis ist übrigens eine Darstellung von Philippe Garrels Vater Maurice.

Den Dingen verfallen

Die Figuren in Garrels Filmen haben etwas Tölpelhaftes, leicht ärgert man sich über sie. Sie sind zu naiv, zu arrogant, zu selbstbezogen. Dennoch verfällt man ihnen. Ebenso, wie sie den Dingen verfallen: einer Sache, einer Idee, einem Körper. Und auch der Verfall selbst ist immer wieder Thema. Ein unheimliches Doppel. Im ausladenden, bald dreistündigen „Les amants réguliers“ (Regular Lovers, 2005), der im Pariser Mai 1968 (und danach) spielt und die dreißigminütige, meisterhafte Episode „Hoffnungen voll Feuer“ eines Straßenkampfes enthält, liegen beide Pole gefährlich nah beieinander. Eine Gruppe junger Männer verfällt da sowohl dem Gedanken an die Revolution als auch dem Opium, welches unter einem Totenschädel aufbewahrt wird. Lebendiger kann ein Memento mori kaum sein.

In dem Gespräch 1982 mit dem Schauspieler Courant fragt der Garrel auch: „Welche Qualitäten hat die Kunst?“ Und Garrel antwortet: „Die Annäherung, die Erfindung. Ich könnte nie eine Geschichte rekonstruieren; ich glaube nicht an die Exaktheit der Erinnerung. Ich arbeite lieber mit Träumen.“ Ebenso lässt sich an Philippe Garrels Filme nie exakt erinnern. Sie verlaufen ineinander wie Aquarellfarben auf zu feuchtem Papier.

Auch, weil Garrel auf genau das – Farbe – häufig verzichtet. Der 1948 geborene Franzose findet dafür viele Gründe. Etwa diesen: „Es gibt eine Art Direktverbindung zwischen dem Übersinnlichen und der Schwarz-Weiß-Kultur in unseren Köpfen. Sobald wir einen Schwarz-Weiß-Film sehen, denken wir an alle Schwarz-Weiß-Filme, die wir in der Vergangenheit gesehen haben.“ So ähnlich geschieht es mit den Filmen Philippe Garrels, die sich gegenseitig zum Leben erwecken und bisweilen auch liquidieren.

Retrospektive Philippe Garrel im Oktober im Arsenal, Potsdamer Str. 2. Zur Eröffnung am Samstag um 20 Uhr wird Garrels vorletzter Film „La Jalousie“ als Deutschlandpremiere gezeigt, Einführung von Birgit Kohler. Programm www.arsenal-berlin.de