Essay Schon immer dient der städtische Raum als Folie für Träume von Selbstverwirklichung. Heute sind die Megastädte der Welt eine ständige Herausforderung für die globale Politik
: Schaut auf diese Städte

Mega-Aussicht: im größten Riesenrad der Welt über der 10-Millionen-Einwohner-Metropole London Foto: Emile Luider/Cosmos/Agentur Focus

von Dominic Johnson

Die Großstadt als Ort, wo Altes abgeworfen und Neues erschaffen wird, wo die Entfaltung des freien Individuums an die Stelle von Tradition und Familie tritt – diese Utopie ist so alt wie das städtische Leben selbst. Von der Athener Demokratie der Antike bis zu den Bildungsromanen des europäischen 19. Jahrhunderts und ihren postkolonialen Erben weltweit wird die Metropole immer wieder aufs Neue als aufregender Gegensatz zur ländlichen Monotonie inszeniert. „Alles Ständische und Stehende verdampft“, schrieb dazu einst Karl Marx mit seinem berühmten Satz über die Wucht der kapitalistischen Entwicklung. „No Condition Is Permanent“ lautet diese Erkenntnis auf den Lastwagen von Lagos, einer der am schnellsten wachsenden Megastädte der Welt.

Die Megastadt – definiert als städtischer Raum mit mindestens 10 Millionen Einwohnern – steht im Mittelpunkt des dritten Habitat-Gipfels der Vereinten Nationen, anlässlich dessen die taz diese Sonderbeilage herausgibt. Die UNO erkennt 29 Megastädte an, und es werden immer mehr. Manche sind schon ermattet und fast museal, andere wuchern unkontrolliert; manche entziehen sich jeder stadtplanerischen Kontrolle, andere sind Ruinen großspuriger Reißbrettfantasien.

Megastädte erzeugen immense Probleme – und bieten zugleich immense Chancen. „Der Mensch wird so, wie die Stadt ihn macht, und umgekehrt“, schrieb Alexander Mitscherlich vor über 50 Jahren in seiner berühmten Streitschrift Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Die Stadt sei „einerseits Ort der Sicherheit, der Produktion, der Befriedigung vieler Vitalbedürfnisse. Andererseits ist sie der Nährboden, der einzigartige Ort der menschlichen Bewußtseinsentwicklung.“

Die Konferenz: Vom 17. bis zum 20. Oktober wird in Quito die UN-Konferenz zu Wohnungsbau und nachhaltiger Stadtentwicklung durchgeführt. Hauptthema werden die Herausforderungen der immer größer werdenden Riesenstädte, der Megacities, sein.

Die Vorgänger: 1976 fand in Vancouver die erste Habitat-Konferenz statt. Es ging um Wohnungsversorgung und Wohnungsnot. 1996 wurden auf der Habitat-II-Konferenz Ziele für einen nach­haltigen Siedlungsbau formuliert.

Die 29 Megastädte auf der UN-Liste haben zusammen 470 Millionen Einwohner. Nur in 88 Ländern der Welt leben überhaupt mehr als 10 Millionen Menschen. Städte dieser Größenordnung sind ihrer Natur nach permanente Infragestellungen des Gleichgewichts ihrer Länder.

Die großen Revolutionen und Umstürze unserer Zeit haben ihren Ursprung zwar fast immer im kleinstädtischen Milieu, in der direkten persönlichen Konfrontation zwischen Machthabern und Entrechteten; aber ihre Erfüllung finden sie in den Metropolen, wo die Staatsmacht sitzt und wo die Bürger zusammenstehen. Nirgendwo sonst kann die Staatsmacht so direkt herausgefordert werden, nirgendwo sonst kann sie so geballt zurückschlagen.

„Die Großstadt, das vielarmige Ungeheuer, ist immer etwas Politisches“, schrieb Henri Lefèbvre, der französische Stadtsoziologe, kurz nach der 1968er Revolte in Paris. „Sie schafft das dem Entstehen einer autoritären Macht günstige Milieu, eines, in dem Organisation und Überorganisation herrschen.“ Aber in den globalen Megastädten von heute ist die Politik eher damit beschäftigt, das städtische Ungeheuer zu bändigen, manchmal brutal, zuweilen vergeblich. An die Stelle der direkten Kontrolle tritt die Segregation, das Fernhalten der Armen und die Abschottung der Reichen. Damit entwickelt die Megastadt eine ganz eigene Dynamik, zunehmend losgelöst vom Rest des Landes und zugleich ein Brennglas der allgemeinen sozialen Schichtung.

Es gibt keine Megastadt ohne Ungleichheit. Die institutionalisierte Entrechtung von Zuzüglern vom Land etwa in China ist nur die kodifizierte Form eines weltweit zu beobachtenden Gefälles. Einige Wenige und Begüterte schaffen sich im metropolitanen Raum Blasen des Wohlstands und des Anschlusses an die Globalisierung. Und die Vielen und Verzweifelten streben zu diesen Blasen wie Motten ans Licht, dauernd auf der Suche nach Nahrung und ständig auf Distanz gehalten.

Verkehr: Lima hat ein Problem. Die Hauptstadt Perus erstickt am Erfolg. 10 Millionen Menschen wohnen in der Metropolenre­gion. Viele von ihnen haben mittlerweile das Geld für ein Auto, so kommt der Verkehr endgültig zum Erliegen.

Zwar gibt es öffentlichen Nahverkehr. Der besteht aber vor allem aus Tausenden Minibussen, die fast wie auf dem Land an jeder Ecke halten, wo ein Fahrgast winkt.

Die Stadtverwaltung kopiert daher drei Erfolgskonzepte. Seit 2010 fährt der Metropolitano, ein Schnellbus mit eigener, von allen anderen Verkehrsteilnehmern getrennter Spur. Diese Art Schienenverkehr ohne Schienen wurde erstmals 1974 in der brasilianischen Stadt Curitiba eingesetzt. Aber in Lima fehlt der Platz für weitere Busspuren. Nur eine einzige Linie hat der Metropolitano bis heute.

Also setzt man auf drunter und drüber. 2017 Jahr soll die erste U-Bahn in Betrieb gehen. Die braucht an der Oberfläche keinen städtischen Raum, ist aber teuer.

Der neue Hit der Verkehrsplaner ist die Seilbahn. Die kolumbianische Metropole Medellín hat seit 2004 die an den Hängen der Anden hochwuchernden Vororte per Seilbahn erschlossen. Andere Anden-Städte zogen nach.

Auch die Küstenstadt Lima will das nun nutzen. Schließlich sind auch hier die Vorstädte längst die Hügel hinaufgewachsen. Der Seilbahnbau an sich ist unproblematisch. In nur acht Monaten soll die erste Strecke im Norden Limas fertig sein – das allerdings schon seit Jahren. In diesem Herbst soll der Bau wirklich beginnen. 80.000 Menschen bekommen dann einen Anschluss an den Metropolitano und die U-Bahn. (ga)

Die unendlichen Slums rings um die Glitzerzentren der Megastädte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas sind nur scheinbar chaotisch. In Wahrheit herrscht dort, wo das tägliche Überleben jeden Tag neu zur Disposition steht, meist strenge Ordnung: jedes Zeitsegment, jeder Quadratmeter, jeder Funke Energie muss produktiv genutzt werden, sonst geht man unter. Außenstehende müssen das nicht durchschauen. Undurchsichtigkeit ist der Selbstschutz der Armen vor den Ansprüchen der Mächtigen.

Für diesen Gegensatz ist die Megastadt die Bühne. Und für Politik im Sinne einer Verbesserung von Lebensverhältnissen ist die Nagelprobe, inwieweit sie diese verborgenen Ordnungen, das Stadtgewebe und die Menschen dahinter, anerkennt und achtet.