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Die Hand im Bienenstock

Konzerte Von Adams bis Zappa: Das diesjährige Musikfest fühlte sich in den besten Momenten an wie Ohren auf Urlaub. Zwischen Avantgarde und Spätromantik gab es sehr unterschiedliche musikalische Erlebnisse

von Katharina Granzin

Man kennt das: Da steht einer auf der Bühne, der so gut wie tot ist, im Sterben begriffen jedenfalls, und nutzt den letzten Atemhauch zum eloquentesten Monolog seines Lebens. Oder zur irrsten aller Arien.

Die Romantiker, allen voran der Spätromantiker Richard Wagner, haben dieses Prinzip auf die Spitze getrieben. Dass es möglich ist, Wagner in der Disziplin des vertonten Sterbens längenmäßig noch zu übertrumpfen, hat ein Brite gezeigt, Edward Elgar, der einem solchen Vorgang mit „The Dream of Gerontius“ von 1900 ein ganzes Oratorium widmete. (Elgar liebte Wagner.) Mit diesem Werk ging in dieser Woche das diesjährige Musikfest zu Ende.

Daniel Barenboim hatte dafür seine groß besetzte Staatskapelle in die Philharmonie gebracht und einen Riesenchor zusammenstellen lassen, der sich aus allen Vokalensembles seines Hauses sowie dem Rias-Kammerchor zusammensetzte. Diese 150 Menschen wären zur Blütezeit des Oratoriums in England übrigens ein fast bescheidenes Häufchen gewesen, wie das Programmheft erklärt. Ein Oratorienchor konnte damals bis zu Tausend Singende umfassen. Aber in der exzellenten Akustik der Philharmonie müsste die Klangfülle keinesfalls noch imposanter sein.

Dazu passt als Kontrast hervorragend der leichte und doch tragende Tenor von Andrew Staples, der als Drittbesetzung (!) eingesprungen ist und seinen Part mit einer solchen Ausdruckskraft und gestalterischen Phantasie singt, dass sicher kaum ein Mensch im Saal jetzt noch den ursprünglich gesetzten Branchenstar Jonas Kaufmann vermisst. Neben Andrew Stples verblassen ein wenig der Bariton Thomas Hampson, der den Priester schön, aber recht statuarisch singt, und die ebenfalls eingesprungene Catherine Wyn-Rogers als Engel, die mit starkem, aber auch stark tremolierendem Mezzosopran etwas zur leeren Melodramatik tendiert.

Geschichte des Hörens

Am Ende des Abends kann man sich bei aller musikalischen Schönheit etwas erschlagen fühlen von der Überklangfülle der vorletzten Jahrhundertwende. Man fragt sich, ob man als Mensch des 21. Jahrhunderts diese Musik eigentlich auf eine auch nur annähernd ähnliche Weise wahrnimmt wie die damaligen Zeitgenossen? Eigenartig, dass nur wenige Tage zuvor ein Werk, das geradezu neoromantisch zu nennen ist, auf dem Podium der Philharmonie zur Aufführung kam, nämlich die „Scheherazade“-Symphonie des Amerikaners John Adams (taz vom 17. 9.). Was bei Elgar die menschliche Tenorstimme, ist bei Adams die Geige (Stimmlage Sopran); hier als Verkörperung des verfolgten, unterdrückten, aber kämpferischen weiblichen Individuums.

Die Gegenüberstellung von Solostimme und großem Klangapparat nutzen beide Komponisten in programmatisch sehr pointierter Absicht, die hohe Emotionalität und Emphase der Musik ebenso. Das muss gar nicht heißen, dass das ewig Gleiche immer wiederkehrt, sondern verweist vielleicht auf eine gewisse Freiheit im Umgang mit musikalischen Formen, die sich nach einem Jahrhundert der avantgardistischen Experimente inzwischen eingestellt hat. Jedenfalls bei einem wie John Adams, der einst zu den Kreisen der Minimal Music zählte, stets der Tonalität die Treue hielt, nächstes Jahr 70 wird und ganz und gar wirkt wie einer, der immer das macht, wozu er Lust hat.

Was bei Elgar die menschliche Tenorstimme, ist bei Adams die Geige

Einer, der Anfang dieses Jahres mit 90 Jahren starb, Pierre Boulez, hielt es da sicher genauso, hatte aber Lust auf deutlich avantgardistischere Positionen. Die Pianisten Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovich traten in der letzten Woche des Musikfests mit einem nicht alltäglichen Programm im Kammermusiksaal auf. In einem fast dreistündigen Konzert waren sämtliche Boulez-Kompositionen für Klavier solo zu hören – angefangen von den kurzen Charakterstücken der noch in Zwölftontechnik gehaltenen „Notations“, die der Komponist als Zwanzigjähriger schrieb, über seine drei Klaviersonaten bis zum nur wenige Stücke umfassenden Spätwerk.

Kurios virtuos

Manchmal wird es so kurios virtuos, dass man darin einen hintergründigen Sinn für Humor walten sehen könnte, den wahrscheinlich nicht sehr viele Pianisten imstande wären zu teilen. Stefanovich und Aimard können es und versuchen mit hilfreichen Erörterungen, den Reiz dieser Musik auch dem Publikum nahezubringen. Als sie Boulez einmal nach einer bestimmten Stelle in der zweiten Sonate gefragt haben, erzählt Stefanovich, habe der gesagt: „Très simple!“ Man müsse sich einfach nur vorstellen, dass man seine Hand in einen Bienenstock stecke.

Das vom Wellness-Standpunkt aus schönste Konzert übrigens, das entspannteste Hören, das anregendste Aufeinanderstoßen von Klangwelten gab es in jener letzten Woche im Haus der Berliner Festspiele mit dem Ensemble Musikfabrik aus Köln, die Edgar Varèse und Frank Zappa an einem Abend spielten. Zwischen experimenteller Elektronik und ekstatischen Schlagzeugsoli entstehen dabei so viele beziehungsreiche Verbindungen, so viel unmittelbarer musikalischer Humor, dass es sich anfühlt wie Ohren auf Urlaub. „Lemme me take you to the beach“ heißt es bei Zappa.

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