Berliner Szenen: Beim Zahnarzt
Adonis ist wieder da
Vier Augen blicken von oben in meinen Mund. Meine Zahnärztin und ihre Helferin checken vor der Behandlung, wie es im Allgemeinen so um meine Zähne steht. Ich liege in der Horizontalen, sehe nur diese Augen, grelles Licht und den Mundschutz der beiden, der mich kurz an Michael Jackson denken lässt. Sie unterhalten sich über einen Song, der im Radio läuft; ich glaube, das ist so eine Art Ablenkungsstrategie. Sie funktioniert halbwegs. „Eins-eins sieht auch nicht mehr so gut aus“, sagt die Ärztin. „Eins-zwei meinst du?“, fragt die andere. „Nein, der geht noch. Eins-eins ist dringender.“
Es folgt der unangenehmere Teil. An einem der Vorderzähne muss ein bisschen gebohrt werden. Einmal kommt so ein durchzuckender Schmerz. Die beiden machen eine Pause, als sie merken, dass mir der Schweiß auf die Stirn tritt. „Das war’s schon, jetzt dürfte es nicht mehr wehtun“, sagt die Ärztin und schleift noch ein bisschen am Zahn rum.
„Ach, guck mal“, sagt sie zu ihrer Assistentin, als sie wieder pausiert, „unser Adonis ist wieder da.“ Ich sehe, dass die beiden aus der Zahnarztpraxis in den Hinterhof zum Haus gegenüber blicken. Jetzt bin ich doch neugierig, auch wenn ich wieder ein Ablenkungsmanöver vermute. „Adonis?“, frage ich. Mit dem Absaugschlauch im Mund hört es sich wohl eher wie „Aaooois?“ an.
Die Ärztin drückt auf ein Pedal und fährt mich wieder in die Vertikale. „Guck mal“, sagt sie, „das ist unser Adonis, der uns jeden Tag mit seinem Anblick beglückt.“ Sie zeigt auf einen älteren Mann mit einem voluminösen nackten Bauch, den er aus dem Fenster gehängt hat. Sie erzählt, dass er sogar Patient sei.
„Das müssen wir hier jeden Tag ertragen“, sagt die Ärztin. „Ich würde euch anderes gönnen“, sage ich. Sie antwortet: „Sei froh, dass da kein Typ mit Sixpack steht, sonst wären wir noch abgelenkt.“
Und, ja, denke ich, da der Schmerz gerade abgeklungen ist: Ich bin sehr froh darüber.
Jens Uthoff
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen