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Diese Stücke öffnen wirklich allen das Herz

KLANGWUCHT Das Jazzkollektiv Berlin präsentiert sich an drei Abenden im türkischen Theater Tiyatrom als perfekter Gastgeber für improvisierte Musik und Musiker aus dem Ausland

Christian Lillingers Grund bei der freien Improvisation am Montagabend Foto: Dieter Düvelmeyer

von Franziska Buhre

„War das jetzt alles improvisiert?“, fragt die Künstlerin aus New Orleans nach dem Konzert von Christian Lillingers Grund am Montag. Eine solche Musik habe sie noch nicht gehört. Lisa ist über den Tipp einer Bekannten im türkischen Theater Tiyatrom in Kreuzberg bei den Kollektiv Nights des Jazzkollektivs Berlin gelandet. Ihr Freund war am Abend zuvor beim Atonal-Festival mit Hard- und Software und einem Kumpanen aufgetreten. Und hat die Autorin dieser Zeilen vor dem Auftritt von Lillingers Grund gehörig verwirrt mit der Aussage, Improvisation sei Geschichte, ein historisches Konzept. Gegen die vielfach verschachtelten Stücke des Schlagzeugers Christian Lillinger ist Origami bloß eine gefaltete Zeitung. Die Besetzung mit zwei Bassisten, zwei Saxofonisten, Vibrafon, Klavier und Schlagzeug hat Charme, die Allmacht der Kompositionen allerdings wirkt wie ein Käfig, in dem jeder im Dreieck improvisieren kann, aber eben nicht darüber hinaus.

Atemberaubendes Tempo

Neben Christopher Dell, der auf dem Vibrafon bei atemberaubenden Tempo in Melodienreichtum brilliert, fällt besonders das Saxofongespann auf. Der Tenorsaxofonist Tobias Delius ist über 20 Jahre älter als sein Kollege Pierre Borel auf dem Altsaxofon, ihre Sounds ergänzen einander, sind sparsam und immer auf den Punkt.

Wie Borel Geräusche erzeugt und eigene Passagen zugleich minimalistisch und mit Nachdruck gestaltet, ist eine Freude. Wer ihn vor zehn Jahren spielen sah, musste befürchten, er falle mangels Luft in Ohnmacht, denn jeder Atemzug rauschte durch sein Instrument. Am Montagabend zeigte er einmal mehr, wie ausgereift und trotzdem erfinderisch seine Stimme inzwischen ist. Den Abend eröffnet hatte das Duo des Pianisten Kit Downes mit der Cellistin Lucy Railton. Sie war bei Atonal mit dem 83-jährigen Synthesizer-Pionier Peter Zinovieff aufgetreten, ihr Altersgenosse Downes ist derzeit einer der interessantesten jungen Jazzer aus England. Seine Stücke sind träumerische Serenaden mit tänzelnden Melodien, wechseln verspielt das Tempo und lassen beiden Zeit zur Entfaltung, wenngleich seine kurzen Improvisationen im Vordergrund stehen.

Die Verneigung vor afroamerikanischen Innovatoren des Jazz ist hierzulande selten

Die Akustik im oktagonalen Saal des Tiyatrom ist ideal, für die voll besetzten Stuhlreihen im großen Halbkreis reicht eine sparsame Mikrofonierung. Zahlreiche MusikerInnen sind gekommen, um den Gästen aus London, Kopenhagen, Amsterdam und ihren Berliner Kollegen zu lauschen, die älteren Diehards im Publikum sind in der Minderheit gegenüber jungen ZuhörerInnen. Anja Jacobsen, die sonst in der dänischen Band Selvhenter Krach macht, erzählt im Stehen mit einem Instrumentarium aus Tomtom, Becken, Bongos, elektronischem Drumpad und Holzglocken, mit Gesang und Rezitation eine humorvolle Geschichte von Mr und Mrs Gorbi in Outer Space. Der Berliner Schlagzeuger Moritz Baumgärtner erforscht im Quartett Tau die Elemente des Schlagzeugspiels am dritten Abend von Grund auf neu, zu seinem Instrumentarium gehören Fahrradklingeln, kleine Gongs und ein Megafon. Philip Zoubek entlockt mehreren Synthesizern außerirdische Orgeln, lauschige Fender Rhodes und das wabernde Säuseln eines Theremins, das Tenorsaxofon von Philipp Gropper wirkt wie eine Verlängerung der Klangsynthesen auf dem Holzblasinstrument, Petter Eldh groovt dazu locker auf dem E-Bass.

Äußerst komplex

Zoubeks Stücke sind äußerst komplex und verströmen dabei trotzdem sinnlichen Drive, wie solche hypermobilen Gebilde aus Komposition und Freiräumen für jeden Einzelnen überhaupt notiert sein können, bleibt ein Rätsel mit hohem Suchtfaktor. Der Fairness halber sei angemerkt, dass die Autorin den zweiten Abend verpasst hat, denn das Auswärtige Amt hatte zu einem Event geladen. Bei der 13. Ausgabe der Konzertreihe traten erstmals mehr Bands von Gästen als von den acht Mitgliedern des Kollektivs auf, was dem Programm mehr Dringlichkeit verschafft hat. Der Berliner Pianist Alexander von Schlippenbach wartete am Mittwochabend mit einer fulminanten Zeitmaschine auf. Zwischen flüssigen Stücken im Free-Jazz-Modus erklingen plötzlich ein satter Blues, eine Bebop-Variation und die Band swingt, was das Zeug hält. Schlippenbach spielt im Heute noch immer Stücke von Thelonious Monk und Eric Dolphy, die einem einfach das Herz öffnen, weil sie schon damals zeitlos waren. Diese Geste der Verneigung vor afroamerikanischen Innovatoren der Musik ist hierzulande selten geworden.

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