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Jeden Tag wird etwas anderes beerdigt

Wiesbaden Biennale Das alte Konzept hat ausgedient. Standen bislang Autoren im Mittelpunkt, präsentieren IntendantUwe Eric Laufenberg und sein Team kaum noch Stücke im herkömmlichen Sinne

von Shirin Sojitrawalla

Das Wetter hätte niemand schöner inszenieren können: Sonne satt. Was die in Gold glänzenden Programmhefte und Werbeartikel des Festivals (Taschen, FlipFlops, Hosen) noch herrlicher scheinen lässt. Es ist wieder Biennale in Wiesbaden und kaum noch etwas wie zuvor.

Das alte Konzept des Festivals „Neue Stücke aus Europa“, vor langer Zeit von Tankred Dorst und Manfred Beilharz in Bonn ins Leben gerufen und später, als Letzterer in Wiesbaden Intendant wurde, erfolgreich dort weitergeführt, hat ausgedient.

Der neue Intendant, Uwe Eric Laufenberg, wollte es nicht übernehmen, sondern lieber Neues schaffen. Die Leitung der Wiesbaden Biennale legte er in die Hände vergleichsweise junger Kuratoren: Maria Magdalena Ludewig und Martin Hammer, beide Anfang der 80er Jahre geboren. Ein Generationenwechsel, der auch den Geist und Look des Festivals prägt.

Damals standen Stücke und Autoren im Mittelpunkt, wurde Europa aus zahllosen, auch extrem randständigen Perspektiven in den Blick genommen. Dabei waren immer auch Produktionen zu sehen, die man nirgends sonst zu Gesicht bekam. Die letzte Biennale dieser Bauart ging im Juni 2014 über die Bühne. Von heute aus betrachtet beinahe eine andere Welt.

„This is not Europe“ lautet indes der schick paradoxe Slogan der letzten Donnerstag eröffneten Wiesbaden Biennale. Sie präsentiert kaum ein Stück im herkömmlichen Sinne, fahndet dabei umso mehr nach den neuen Erzählungen unserer Identität, die bekanntlich nicht an den Grenzen Europas endet.

Und so hätte das elftägige Festival keinen zarteren und bescheideneren Auftakt wählen können als die Uraufführung von Rabih Mroués kurzer Zeitreise „So little time“. Darin lässt er seine langjährige Partnerin Lina Majdalanie eine absurd verwickelte Geschichte über den fiktiven Märtyrer Deeb Al-Asmar erzählen, der erst für tot und dann zum Helden erklärt wird, bevor er wieder auftaucht, um als lebendes Denkmal herzuhalten. Immer tollere Wendungen fordert sein Schicksal, das Majdalanie in einen arabischen Redeschwall formt, wozu sie Fotos, auf denen sie selbst und der Regisseur zu sehen sind, in eine kleine Plastikwanne bettet, deren Flüssigkeit die Bilder nicht fixiert, sondern auslöscht.

Gerade einmal 55 Minuten dauert die Aufführung, die weniger in ihrer für Mroué typischen minimalistischen Form als mit ihrer verrückt gewordenen Geschichte besticht. Wenig attraktiv dann das ebenfalls am Eröffnungsabend präsentierte „Sculpting Fear“ von Julian Hetzel.

Drei Menschen rollen darin auf Bürostühlen umher, bis ein Unfall sie von den Sitzen fegt, sodass sie zu Boden schleudern. Ein Mann, der aussieht wie ein außerirdischer Müllmann, stochert dann an ihren Körpern herum. Später berappeln sie sich wieder, lassen sich von einem Kaffeevollautomaten bedienen, der ein hörenswertes Blubber-Zisch-Pling intoniert. Irgendwann bevölkert Styropor die Bühne und verkrümelt sich zu einer apokalyptisch gemeinten Eiszeit. Davor und danach fiept, piepst, wummert, kracht es und einmal wagt einer der drei einen beachtlichen Kopfstand.

All die angestrengt wirkenden Bilder eines globalen Burnouts fügen sich zu einer ausgesprochen faden und auch ein bisschen peinlichen Jenseitsbeschwörung, die sich nicht zu schade ist, Nebelschwaden rot auszuleuchten. Da hilft nur frische Luft.

Die gibt’s hinterm Theater zum Glück zuhauf, und dazu Dinkel-Bier und Gespräche in goldiger Kurparkseligkeit. Das Festivalzentrum am Warmen Damm ist Herzstück und Sammelplatz der Biennale. Wo sich früher alle in und um ein großes Zelt gruppierten, sitzt man jetzt unter freiem Himmel auf nach Plänen des italienischen Designers Enzo Mari spartanisch gezimmerten Mobiliar: Tische, Bänke, Stühle, die bewegt werden dürfen und tatsächlich durch den ganzen Park bewegt werden. Das Festivalzentrum weitet sich derart quasi von selbst, franst an seinen Rändern hübsch aus. Ein Sinnbild für das um seine Mitte ringende Europa?

Die Ausdehnung in die Stadt hinein gehört jedenfalls zum neuen Konzept. Einerseits wurden neun Gastspiele eingeladen, darunter Arbeiten bekannter Grenzgänger und Performance-Künstler, wie Romeo Castellucci, Gob Squad, Jérôme Bel, Kornel Mundruczó. Darin unterscheidet sich die Wiesbaden Biennale nicht groß von anderen Festivals gleichen Zuschnitts. Origineller ist das zweite Standbein. Im „Asyl des müden Europäers“ nämlich finden all jene Zuflucht, die sich Gedanken machen über die Welt und das große Drumherum.

An verschiedenen Orten der Stadt befragen Künstler die Gegenwart. Übrigens sind es fast nur Männer. Wie überhaupt männliche Handschriften das Programm dominieren. Warum eigentlich? Der niederländische Künstler Dries Verhoeven etwa, der vor zwei Jahren mit seiner vorzeitig abgebrochenen Aktion „Wanna play?“ ziemlichen Wirbel verursachte, lädt an 10 Abenden hintereinander zum Trauergottesdienst in eine kleine Kirche.

Jeweils um 17.45 Uhr versammelt man sich, manche sind dem Anlass gemäß schwarz angezogen und gucken traurig aus der Wäsche. Die Glocken beginnen zu läuten, zu Grabe getragen wird diesmal Mutter Natur, und zwar mit allem Pipapo: Orgelspiel, Messdiener, Weihrauch, Fürbitten, Kommunion, fast eine Stunde lang. Danach ist klar: In Sachen Dramaturgie macht der katholischen Kirche so schnell niemand was vor.

Umso mehr fahndet das elftägige Festival nach den neuen Erzählungenunserer Identität

Verhoevens Inszenierung folgt dem Ritus, bricht ihn aber auch spielerisch auf. Das von allen gemeinsam vorgestoßene Schuldbekenntnis enthält etwa die Zeilen: „Statt zu wandern im Umland flog ich sorglos in die Ferne, statt zu essen aus dem Garten aß ich Thunfisch und Garnelen“. Liest sich sehr albern, entfaltet aber vielstimmig im Chor gesprochen durchaus kathartische Wirkung. Statt einer Hostie werden diesmal Kürbiskerne ausgegeben, später schreitet man in einer Prozession samt Sargträgern über die Wilhelmstraße zum Festivalzentrum, zur letzten Ruhestätte hinterm Schillerdenkmal.

In der Theaterkantine wurde derweil der Leichenschmaus aufgebahrt: Kaffee und Käsebrötchen. Jeden Tag wird auf diese Weise etwas anderes beerdigt, am ersten Tag die multikulturelle Gesellschaft, am vierten der Wohlfahrtsstaat, jeweils mit anderer Liturgie, anderen Beigaben, anderen Trauerrednern. Zur Beerdigung der Privatsphäre wurde jetzt Gina-Lisa Lohfink angekündigt. Bevor die einzelnen Werte und Ideen beerdigt werden, lässt Verhoeven sie noch einmal richtig hochleben, auf dass sie niemals sterben mögen.

Das ist bestimmt nicht wahnsinnig tiefgründig, hat aber durchaus Witz, Charme und Mehrwert. Letzterer besteht auch darin, sich klarer zu werden über die Verfasstheit unserer Gegenwart. Selbiges gilt für Thomas Bellincks ausgeklügeltes, ähnlich auch schon anderswo inszeniertes Museum „Domo de Europa Historio en Ekzilo“, das aus der Zukunft auf die Glanz- und Krisenzeiten der Europäischen Union zurückblickt. Mit seinen zahllosen echten und gefakten Exponaten gleicht es einem Denkmal, das an ein einzigartiges und beispielloses politisches Konstrukt erinnert: die EU.

Untergebracht in einem leerstehenden Amts- und Landesgericht, entwirft Bellinck darin eine Welt, in der die europäische Utopie erfolgreich überwunden wurde. Ein Spiel, aber kein Spaß, denn die ausgedachten Szenarien bewegen sich entlang der tatsächlichen Gefährdungen der Jetztzeit. Als tristes Symbol dürfen die überall des Wegs lauernden Sansevieria-Pflanzen dienen, die sich als langlebiger erweisen könnten als manch eine politische Gewissheit von heute.

Das gilt auch für die neue Wiesbaden Biennale, die in der europäischen Wirklichkeit beherzt nach den Dramen der Gegenwart fahndet. Abzuwarten bleibt, wie sie sich dabei fortschreibt.

www. wiesbaden-biennale.eu

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