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Wer ohne Zukunft ist

theorie Der Politik fehlt ein Begriff der Zukunft, Konzerne und Militär aber entwickeln sie in Szenarien. Das kritisieren Philosophen in „Der Zeitkomplex. Postcontemporary“

Hat, scheint’s, die Ruhe weg. Der Philosoph Armen Avanessian, Herausgeber des „Zeitkomplex“ Foto: David Payr/laif

von Philipp Rhensius

Wir leben in einer Zeit ohne Gegenwart. Ob Postmoderne, Postdemokratie oder Postkapitalismus, heute ist alles irgendwie post. Aber wenn alles nur noch ein Danach ist, was ist dann mit dem Jetzt? Es ist verschluckt worden, denn es wird nur noch über die Vergangenheit oder die Zukunft bestimmt.

Das ist ein Grund zur Sorge, folgt man dem von den Philosophen Armen Avanessian und Suhail Malik jüngst herausgegebenen Band „Der Zeitkomplex“. In den westlichen Industriegesellschaften herrsche eine neue Zeitwahrnehmung vor, der „spekulative Zeitkomplex“. Die Zeit ist aus den Fugen geraten. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft folgen hier nicht mehr linear aufeinander.

Wie die Zukunft das Jetzt steuert, zeigt sich etwa im „Präemptiven“. Die Präemptivschläge des US-Militärs basieren, so die Herausgeber im Vorwort, auf einer Spekulation, die in eine Situation verwandelt wird. Angriffe wie der Einmarsch in den Irak würden inzwischen regelmäßig mit einer „rekursiven Wahrheit“ gerechtfertigt. Oder die „präemptive Personalisierung“ von Konzernen wie Amazon, die mithilfe von Algorithmen nicht mehr nur Produktempfehlungen generiert, sondern den Kunden gleich das vermeintliche Wunschprodukt zuschickt, von dem sie gar nicht wussten, dass sie es haben wollten.

Perfide Prozesse

Die Prozesse der Finanzwirtschaft sind nicht weniger perfide, glaubt man der Soziologin Elena Esposito mit ihrem Aufsatz „Die Konstruktion von Unberechenbarkeit“. Big Data und die Auswertung von Kundendaten erfolgen über eine Ausbeutung der Gegenwart zugunsten eines zukünftigen Profits, auch „future mining“ genannt.

Der Politik hingegen sei die Zukunft abhandengekommen, schreiben Alex Williams und Nick Srnicek, die „Begründer“ des Akzelerationismus. Grund seien der Zusammenbruch der sozialdemokratischen Parteien und vor allem die Reaktion der linken Bewegungen. Es würden nur noch Symptome, etwa des Neoliberalismus, bekämpft, aber keine echten Alternativen vorgeschlagen. Was sie fordern, benötigt Mut: eine umfassende Automatisierung der Arbeitswelt, ein allgemeines Grundeinkommen, eine Kürzung der Arbeitswoche und die „Destruktion der Arbeitsethik“. Daher möchte das Autorenduo – deren Manifest „Die Zukunft erfinden“ demnächst auf Deutsch in der Edition Tiamat erscheint – Zukunft als navigatorischen Begriff verstanden wissen. Zukünfte sollen als partielle „Binding-Akteure“ wirksam werden, „die prä-existente Felder der Ideologie besetzen und überarbeiten“.

Ebenfalls eine Zukunft gefunden haben die sechs AutorInnen des Kollektivs „Laboria Cuboniks“, die 2015 das Manifest „Xenofeminism – a politics for alienation“ veröffentlicht haben – ein Plädoyer für eine Welt ohne Geschlechter, in dem sie die Abschaffung naturalisierter Identitäten und eine Ausschöpfung des emanzipatorischen Potenzials von Technik fordern. Im online frei zugänglichen Text plädieren sie im Gegensatz zur klassischen linken Position eines „Freiheit von“ für ein positives „Freiheit zu“. Dass sie die Form des Manifests gewählt haben, ist plausibel, handelt es sich doch um ein Genre, das dezidiert eine Zukunft formuliert, indem es affektive Möglichkeitsräume schafft.

Allen Texten gemeinsam ist die Lust an der Ambivalenz und dem Experiment

Im Gespräch mit den Herausgebern kritisieren sie die aktuellen parlamentarischen Demokratien genauso wie die Protestpolitik, weil sie im nationalstaatlichen Denken verharrte. Politische Aktionen dürften jedoch keinem Masterplan folgen, sondern müssten kontextspezifisch und heuristisch sein. Das erfordert auch „neue Formen des Wir“, die Identitäten verbinden anstatt sie voneinander abzugrenzen.

Allen Texten gemeinsam ist die Lust an der Ambivalenz und der Kontingenz der Welt, vor allem auch der Mut zum Experiment. Am Deutlichsten wird das in Benjamin Brattons Text über Spekulatives Design, eine Alternative zum Mainstream-Design, das sich etwa in der Aufhübschung technologischer Geräte zeigt. Dabei sei es an der Zeit, Dinge zu denken, die auch Normen überschreiten.

Theorien können die Welt nicht sofort verändern, aber sie können Vektoren sein. Deshalb sind sie in Zeiten von Terror, Trump und AfD, die ja besonders von der Mutlosigkeit der Politik profitieren, wichtiger denn je.

„Wer ohne Zukunft ist, ist ohne Fantasie – und damit politisch neutralisiert.“ Was Marcus Steinweg in einem Essay im ebenfalls jüngst erschienenen Merve-Band „Absolute Gegenwart“ schreibt, unterstreicht die Relevanz der acht Texte in „Zeitkomplex“. Auch wenn darin noch keine wirkliche Systematik zu erkennen ist, nähren die Stimmen die Hoffnung auf eine Zukunft, die sozialer, fairer, besser ist. Aber noch gestaltet werden muss.

Armen Avanessian u. a. (Hg.): „Der Zeitkomplex. Postcontemporary“. Merve, Berlin 2016, 144 Seiten, 15 Euro

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