Hausbesuch Beate Schmeichel-Falkenberg ist 90 Jahre alt und lebt in Mössingen-Belsen bei Tübingen. Wenn sie von ihren vielen Leben erzählt, rutschen Jahre zusammen. Eine Konstante: die Poesie
: Zeit vergeht, das Herz vergisst

In den Bücherregalen: die Literatur des letzten Jahrhunderts

Von Waltraud Schwab
(Text) und Gabriele Mittag (Fotos)

Zu Besuch bei einer Frau, die schon viele Namen hatte: Beate Hartung, Beate Falkenberg, Beatrice Miller, Beate Schmeichel-Falkenberg.

Draußen: Schwäbische-Alb-Idylle mit Hügeln, Streuobstwiesen, Blumenfeldern. Belsen ist ein Dorf in Tipptoppmanier. „Es war immer schwer, meinen jüdischen Freunden sagen zu müssen, ich wohne in einem Ort namens Belsen. Einige konnten mich nicht besuchen. Die Erinnerung war zu stark“, sagt Schmeichel-Falkenberg. Vor dem Haus steht ein kleiner Brunnen. Wenn er läuft, spuckt ein Männermund in einen Trog. Der eingravierte Text darunter stammt von ihr: „Le temps passe, l’eau coule, le cœur oublie“ – Die Zeit vergeht, das Wasser rinnt, das Herz vergisst.

Drin: Eine Wohnung voller Bücher. Dazu Grafiken und Drucke – viele hat ihr vor zwei Jahren verstorbener Mann gezeichnet. Beate Schmeichel-Falkenberg ist Fan all jener Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die keine ­Jasager sind. Lange fand sie, ­Philip Roth sei der Größte. Das sei dann aber abgeebbt. „Else Lasker-Schüler dagegen hat meine Dauerverehrung.“ Von Tucholsky hat sie auch so gut wie jede Zeile gelesen.

Beate Schmeichel-­Falkenberg: Ihre Stimme klingt jung. Sie macht klare Ansagen, hat klare Meinungen, geht aufrecht, trotz der 90 Jahre. Aufrecht gehen – ihr Lebensmotto. Sie habe, sagt sie, keine größeren Krankheiten. Bis auf diese chronischen Schmerzen nach einer Gürtelrose. „Aber man lernt, mit Schmerzen zu leben.“ Bald fährt sie nach Hongkong, Freunde besuchen. Kuba würde sie auch gern noch sehen, „bevor der Kapitalismus darüber gepflügt hat“.

Die Vatertochter: Beate Hartung hieß sie als Kind. 1926 geboren als erstes von fünf Geschwistern. Der Vater war Kinderarzt. Ihre Mutter war „bildschön“ und seine beste Kraft. Beate war das Lieblingskind des Vaters, und sie rät allen Vätern, ihre Töchter zu lieben. „Das macht sie stark.“ In der Nazizeit zog die Familie von Hamm ins Sauerland; der Vater fand es dort sicherer. So schlimm die NS-Zeit war, ihre Kindheit wurde Beate Hartung nicht verdorben. Nur in der Schule sei sie verwarnt worden, weil sie die Nazipädagogik infrage stellte. „Hartung, ich kann Ihnen Ihre Zukunft verderben“, hat ihr eine Lehrerin, die mit einem SS-Mann liiert war, gesagt.

Nach 1945: Kaum hatte eine Universität, jene in Göttingen, ihren Betrieb wieder aufgenommen, immatrikulierte sie sich in ­Anglistik und Germanistik. Später auch Pädagogik. „Das war so eine tolle Stimmung an der Uni“, sagt sie. „Ein Aufatmen, ein Aufbruch. Wir rannten in Vorlesungen.“ Damals fängt sie an, als Journalistin zu arbeiten. So viel gibt es neu, anders zu machen. Im Politischen. Im Privaten.

Auf dem Schreibtisch: ein Foto der französischen Schriftstellerin Colette

Frau Falkenberg: Beim „Dauerdiskutieren“ an der Uni lernt sie Gerd Falkenberg kennen. Er hatte als Halbjude in Hannover versteckt den Krieg überlebt. Sie heiraten. Und wäre die Ehe nicht schon bald in die Brüche gegangen, wäre sie womöglich doch in der Frauenrolle stecken geblieben mit dem Sohn, den sie 1950 zur Welt brachte.

Beatrice Miller: Die Eltern von Gerd Falkenberg waren nach England emigriert. Das junge Paar zog zu ihnen. Sie gerieten dabei in jüdische Exilkreise, die oft Künstlerkreise waren. Francis Bacon, Lucien Freud gehörten dazu. Beate arbeitete bei der BBC. Dort riet man ihr zu einem einfacheren Namen. Sie nannte sich Beatrice Miller. In England lernte sie einen David Kay kennen. Die beiden wollten nach ­Israel auswandern, da machte sie einen Rückzieher.

Hier und Heute: Ende der 50er Jahre machte sie bei einer Quizsendung mit und gewann. Werner Höfer, der damals das Re­gio­nalprogramm im WDR leitete, engagierte sie von der Stelle weg für die Sendung „Hier und Heute“. Sie war eine der ersten Moderatorinnen im Fernsehen.

Jahre gerinnen: Wenn sie erzählt, rutschen Jahre zusammen. Entwicklungsjahre, solche, in denen die verkrusteten Nachkriegsstrukturen, in denen sich viele Nazis fein eingerichtet hatten, allmählich Risse bekamen, auch wenn erst 1968 der große Knall kam. Beate Falkenberg war da oft auf Demonstrationen – gegen die Notstandsgesetze, gegen die Wiedereinführung der Bundeswehr, gegen den Nato-Doppelbeschluss und Atomwaffen. Sie blockierte auch in Mutlangen die US-Militärbasis mit. Ihr Mann Manfred, vor der Ehe der erste Militärpfarrer in der BRD, war dabei. Nie wieder Krieg.

Die Begegnung: Manfred Schmei­chel lernte Beate kennen, da war sie Mitte 30 und alleinerziehend. Eine Freundin war wegen eines Pfarrers, ihm, zum Katholizismus konvertiert. Schmeichels Predigten sollen echte Sozialmanifeste gewesen sein. „Du musst ihn kennenlernen“, sagte die Freundin zu Bea­te. Und zu ihm sagte sie: „Du musst sie kennenlernen.“ Bei der ersten Begegnung gab er ihr zum Abschied einen Kuss auf die Stirn. „Donnerwetter, dachte ich“, sagt Schmeichel-Falkenberg. Manfred Schmeichel hatte nach dem Krieg Theologie studiert. Jetzt haderte er mit der Kirche. Die beiden verliebten sich, heirateten, traten aus der Kirche aus. Mit ihm ging sie nach Tübingen. Gemeinsam tauchten sie in die Welt der Tübinger Intellektuellen ein. Aber für sie gab es nicht nur Theorie; sie sahen, was damals fehlte: Schulen für körperbehinderte Kinder – und setzten sich dafür ein, dass eine gebaut wurde. ­Beate Schmeichel-Falkenberg war die Leiterin.

Aus dem Fenster: Blick auf die Hügel der Schwäbischen Alb

Die Überwindung der Krise: Schmeichel-Falkenberg war ungefähr 50, als die Depression kam, der Burn-out. Sie wurde frühberentet und fand zurück zur Literatur. Tucholsky, Else-Lasker-Schüler – die Gesellschaften für beide gründet sie mit und später auch die Organisation „Frauen im Exil“. Es war die Zeit, in der es allmählich möglich wurde, über den Holocaust und die Exilerfahrungen zu reden, zu schreiben. Seit dreißig Jahren lebt sie nun in diesem Wortkosmos, in dem das Verdeckte aufgedeckt wird mit scharfzüngiger Poesie.

Tucholsky:Sie sagt, er konnte die Dummheit der Nazis nicht aufhalten, aber demaskieren. Sie sagt, wir bräuchten viele Tucholskys heute, denn die Dummheit, nein: Verdummung, ist wieder groß, und auch die Nazis sind zahlreich.

Heute hier: Sie hat Zeit gebraucht, den Tod ihres geliebten Mannes zu überwinden. „Jetzt kann ich wieder besser allein sein“, sagt sie. Die Gegenwart ist nun stärker. Mit der Schönheit des Wortes trotzt sie dem ­Alter und der Bedrohung der Welt. „Wir dürfen keine Angst ­haben, Angst hindert am Handeln“, sagt sie. Aber Sätze wie den gibt es auch: „Ich werde nicht mehr lange leben.“ Nicht dass sie nicht leben wollte, aber 90 Jahre, da spreche die Kraft des Faktischen, „Poesie kann die nicht stoppen.“