Nicht gerade vorbildlich: die Müllkippe oder doch der Kinderspielplatz zwischen Görlitzer Park und Flutgraben in Kreuzberg

Der Mangel wird verwaltet

Apparat In Charlottenburg wartet man monatelang aufs Elterngeld. Vor dem Reichstag verrottet der Rasen, und in den Bürgerämtern fehlt es an Personal. Für Nichtberliner ist die Hauptstadt längst zur Lachnummer geworden. Doch wer trägt die Schuld an der Verwaltungsmisere?

VON Juliane Wiedemeier (TEXT)
UND Joanna Kosowska (FOTOS)

Im Volkspark Wuhlheide müsste dringend mal wieder jemand die Rabatten schneiden. In Steglitz-Zehlendorf warten Bedürftige ein Vierteljahr auf ihr Wohngeld. In Mitte mögen Grundschüler nicht mehr aufs Klo gehen, weil die Anlagen steinzeitlich alt und entsprechend eklig sind. In Tempelhof laufen Besucher der Bezirkszentral­bibliothek im Slalom um Mülleimer, die das durch die Decke tropfende Wasser auffangen. Und wer in ganz Berlin einen neuen Personalausweis beantragen möchte, der muss länger als zwei Monate auf einen Termin im Bürgeramt warten.

Für Nichtberliner ist die Stadt schon lange eine Lachnummer – dem Flughafen mit den zu kurzen Rolltreppen, dem nicht ausschaltbaren Licht und dem fragwürdigen Brandschutz sei Dank. Doch das Millionengrab an der Stadtgrenze betrifft die Berliner in ihrem Alltag herzlich wenig. Wie kaputt die Verwaltung tatsächlich ist, merken sie erst, wenn sie einen neuen Pass brauchen, das Kind einschulen oder auf finanzielle Unterstützung des Sozialstaats angewiesen sind.

Für diese Aufgaben sind in Berlin die Bezirke zuständig. Sie schaffen es nicht, rechtzeitig Kitagutscheine zu verteilen, Mülleimer in Parks zu leeren oder Jugendtreffs zu erhalten. Bei den Schulen, die nicht nur in einem erbärmlichen baulichen Zustand, sondern auch den steigenden Schülerzahlen nicht gewachsen sind, will der Senat nun die Notbremse ziehen und schlägt vor, größere Baumaßnahmen in Zukunft von der Verwaltung des Landes Berlin aus zu steuern.

„Es ist ein echtes Problem, dass die Landesebene kein ständiges Eingriffsrecht mehr hat“, beklagte der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) im Juli auf einer Veranstaltung seinen begrenzten Einfluss auf die Bezirke. Wenn das so ist, stellt sich die Frage, wofür Berlin diese dann überhaupt braucht.

Im Stadtstaat Berlin teilen sich Bezirke und Landesebene bei der Verwaltung die Aufgaben. Der Senat ist für alles mit Bedeutung für die gesamte Stadt zuständig – etwa Polizei, Justiz und Gesetzgebung. In den Bezirken werden hingegen Dinge vor Ort geregelt. Neben Pflege und Bereitstellung von Schulen, Bibliotheken, Grünflächen und sozialen Angeboten gehören dazu auch die Planung und Genehmigung von Baumaßnahmen.

Anders als klassische Kommunen haben die Bezirke ­wenig Möglichkeiten, selbst Geld einzunehmen, weil sie keine Steuern erheben. Ihr Geld bekommen sie zum Großteil vom Senat zugewiesen. Einen Bezirkshaushalt dürfen sie zwar selbst aufstellen, durchgesehen und abgesegnet wird dieser jedoch vom Abgeordnetenhaus. (juwi)

Die zweistufige Verwaltung hat in Berlin Tradition. Seit dem Zusammenschluss von Städten und Gemeinden zu Groß-Berlin im Jahr 1920 sind die Bezirke für alles vor Ort zuständig, während die Hauptverwaltung auf Landesebene etwa über Gesetze und Finanzen bestimmt (siehe Infokasten „Senat und Bezirke“). So soll sichergestellt werden, dass Probleme im Kleinen erkannt und bearbeitet werden, ohne dass der Überblick über das große Ganze verloren geht. Im Alltag nutzen Politiker beider Ebenen die geteilte Zuständigkeit aber auch, um Verantwortung abzuschieben.

Ohne mehr Personal vom Senat könne Neukölln die Schlangen vor seinen Bürgerämtern nicht kürzen, erklärt Neuköllns Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD). Ähnlich begründet Pankows Ordnungsstadtrat Torsten Kühne (CDU), warum der Bezirk die unerlaubte Nutzung von Wohnraum als Ferienwohnung nicht kontrolliert bekommt. Und in Marzahn-Hellersdorf hält Bezirksbürgermeister Stefan Komoß (SPD) es für unmöglich, ohne weitere Hilfe vom Land marode Sporthallen zu sanieren.

„Die Finanzierung der Bezirke durch das Land ist ausreichend“, meint hingegen Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen (SPD). Tatsächlich haben die Bezirke insgesamt im vergangenen Jahr einen Überschuss von 18 Millionen Euro erwirtschaftet. Aus ihrer Sicht haben sie sich dieses Geld jedoch vom Munde abgespart, mit unübersehbaren Folgen.

Sechsjährige Verzögerung

Wer hat denn hier seinen Einkauf vergessen? Brache in Neukölln

Über solchen Streitereien werden schon länger existenzielle Aufgaben nicht mehr erledigt. Zu den vielen Leidtragenden gehören zum Beispiel die Schüler der Tesla-Gemeinschaftsschule im Pankower Ortsteil Prenzlauer Berg. Diese Schulform soll für mehr Chancengleichheit sorgen, indem sie Kinder von der ersten bis zur zehnten Klasse gemeinsam lernen lässt. Doch in der 2010 gegründeten Schule ist das bis heute nicht möglich, weil auf dem Schulcampus die nötigen Räume fehlen. Während die Älteren dort in einem Altbau untergebracht sind, wurden die Kleinen in andere Schulen ausgelagert. Erst kippte der Senat aus finanziellen Gründen die vom Bezirk vorgesehene Sanierung eines alten Plattenbaus auf dem Campus, dann dessen Pläne für einen Neubau. Die Schuld für die mittlerweile sechs Jahre andauernde Verzögerung sucht jeder beim anderen. Das pädagogische Konzept bleibt darüber auf der Strecke.

„Der Bezirk ist überfordert; der Senat schiebt die Verantwortung weit von sich“, meint eine Elternvertreterin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. „Ich habe den Eindruck, dass dort so viele Leute in einer Suppe rühren, dass diese verdirbt.“

Wie sehen das die Verantwortlichen? Beate Stoffers, Sprecherin der Senatsverwaltung für Bildung, erklärt lapidar: „Für die Sanierung und den Bau an Schulen sind in Berlin die Bezirke zuständig.“ Für sie hat sich das Thema damit erledigt.

Auf Bezirksebene kann Schulstadträtin Lioba Zürn-Kasztantowicz (SPD) es sich nicht so einfach machen. Die Tesla-Schüler seien Opfer des komplizierten Abstimmungsprozesses zwischen Bezirken und Senat geworden, meint sie. So möchte die Landesebene als Geldgeberin über jede Planungsstufe drüberschauen (siehe Kasten zum Schulbau). Im Ergebnis vergehen zwischen Planung und Bau im Schnitt sieben Jahre, mitunter verfallen finanzielle Mittel. „Das ist der reine Irrsinn“, meint Zürn-Kasztantowicz.

„Es ist ein echtes Problem, dass die Landesebene kein ständiges Eingriffsrecht mehr hat“

DER REGIERENDE Bürgermeister Michael Müller (SPD) über die Berliner Verwaltung

Das ist jedoch nicht das einzige Problem. Seit zehn Jahren ist die Stadträtin für die Schulen im Bezirk Pankow zuständig. Zu Beginn ihrer Amtszeit gehörte es noch zu ihren Aufgaben, Schulen zu schließen. Damals verließen viele Berliner die Stadt; mittlerweile hat sich der Trend jedoch umgekehrt. In Pankow, dem Bezirk mit dem berlinweit größten Wachstum, hat man das zuerst gemerkt.

„Die Landesebene hat uns lange unsere Schülerprognosen nicht geglaubt und demnach keine Mittel für den Schulplatzausbau zugestanden“, sagt sie. Über Jahre haben in Pankow Bezirk und Senat mit unterschiedlichen Schülerzahlen geplant, wobei der Senat von niedrigeren Werten ausging, die sich letztendlich als falsch erwiesen. Im Ergebnis müssen die Schüler immer enger zusammenrücken.

Und noch ein drittes Pro­blem hat Zürn-Kasztantowicz ausgemacht: „Uns fehlt das Personal. Allein in den Sommerferien 2015 wurde an zwei Dritteln aller Schulen im Bezirk gebaut. Hinzu kommt die Planung mehrerer Neubauten. Wir bewältigen das nicht mehr.“

Seit 2012 gilt Pankow als der Berliner Boombezirk. Damals sah eine Prognose der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung ein Wachstum um 60.000 auf 440.000 Einwohner im Jahr 2030 voraus. Quer durch alle Ressorts meldete der Bezirk in der Folge Bedarf an neuen Mitarbeitern; andere, ebenfalls wachsende Bezirke taten es ihm gleich.

Keine Kunst, sondern der Campus der Tesla-Gemeinschaftsschule

Der Senat aber überhörte diese Bitten und beharrte auf einem Beschluss aus der Zeit vor der Wachstumsprognose. Diesem zufolge sollte der öffentliche Dienst in Berlin auf genau 100.000 Mitarbeiter zusammenschmelzen – davon 80.000 auf Landes-, 20.000 auf Be­zirks­ebene. Wie man auf diese Zahl gekommen war, wurde nie erklärt. „Ich glaube, das wurde ausgewürfelt“, erklärt ein Bezirkspolitiker, der mit dieser Meinung im Wahljahr nicht genannt werden möchte.

Im Amt fehlt Personal

1. Der Bezirk erkennt, dass eine Schule neu gebaut oder saniert werden muss, und meldet dies dem Senat.

2. Der Senat sieht ebenfalls Bedarf.

3. Der Bezirk beauftragt ein Büro mit der Bau- und Kostenplanung und merkt die Maßnahme bei der Investitionsplanung des Senats vor, die alle zwei Jahre Geld für größere Projekte bereitstellt.

4. Das Abgeordnetenhaus berücksichtigt das Bauprojekt bei der Investitionsplanung.

5. Der Bezirk stellt das Bedarfsprogramm auf. So heißt die erste Planungsstufe für die Baumaßnahme.

6. Das Programm wird zur Prüfung den Senatsverwaltungen für Bildung, Stadtentwicklung und, wenn eine Sporthalle dabei ist, Sport vorgelegt. Falls diese Verbesserungsbedarf sehen, wird das Programm zwischen Bezirk und Senat hin- und hergespielt.

7. Der Bezirk beauftragt die Vorplanungsunterlage (eine weitere Planungsstufe).

8. Diese geht wiederum an die drei Senatsverwaltungen, was eventuell weitere Verbesserungsschleifen nach sich zieht.

9. Der Bezirk gibt die Bauplanungsunterlage in Auftrag.

10. Die drei Senatsverwaltungen prüfen diese; eventuell kommt es zu weiteren Schleifen.

11. Der Bezirk schreibt das Bauprojekt aus.

12. Es wird gebaut.

Von der Idee bis zur Planung vergehen durchschnittlich sieben Jahre. Das ist zu lange, meint die SPD und hat die berlinweite Bündelung der Kompetenzen in zwei extra Gesellschaften vorgeschlagen, die größere Baumaßnahmen koordinieren sollen. Vor der Wahl wird sich das bisherige System jedoch nicht mehr ändern. (juwi)

Doch davon abgerückt wurde erst, als schon ganz Deutschland darüber lachte, dass man in Berlin länger auf einen neuen Pass warten muss als der DDR-Bürger auf seinen Trabant. Anfang des Jahres wurden allen Bezirken zusammen 440 neue Stellen zugestanden. Bereits vereinbarte Personaleinsparungen gelten jedoch weiter. Richtig ernst scheint das Land die Klage seiner Bezirke also immer noch nicht zu nehmen.

Dort steigt der Frust. Denn während die Bezirke in den vergangenen 15 Jahren die Zahl ihrer Mitarbeiter um 56 Prozent gesenkt haben, ging sie in den Senatsverwaltungen nur um 12 Prozent zurück. So gewinnen die Bezirke den Eindruck, dass sie die finanzielle Misere Berlins allein ausbaden müssen. Hand in Hand zu arbeiten, wie es die zweistufige Verwaltung erfordert, wird dadurch immer schwieriger.

„Die Unstimmigkeiten werden auf dem Rücken unserer Kinder und aller Steuerzahler ausgetragen“, meint die Eltern-Vertreterin der Tesla-Schule. Indem die Landesebene die Bezirke permanent kontrollieren will und finanziell gängelt, bleibt vieles liegen. In Charlottenburg wartet man monatelang aufs Elterngeld? Im Amt fehlt Personal. Der Rasen vor dem Reichstag verrottet? Kein Geld für die Pflege.

Pankow um 1989? Nein! Prenzlauer Berg 2016

Dabei hat das Land Berlin deswegen seine Bezirke, damit diese nah an den Bürgern und den Problemen vor Ort sind. Wenn aber auf bezirklicher Ebene Entscheidungen getroffen werden, möchte der Senat noch einmal überprüfen, gegenrechnen und im Zweifel einschreiten.

Gleichberechtigte Partner

Trotz aller Schwierigkeiten: Die Bezirke aufzulösen würde das Berliner Verwaltungsversagen nicht beenden. Dafür könnten die Bezirke den Senat loswerden, indem sie aus Groß-Berlin wieder austräten. In Pankow machte diese Idee tatsächlich schon die Runde. Ganz ernst gemeint war sie wohl nicht. Doch muss der Senat anfangen, seine Bezirke als gleichberechtigte Partner zu behandeln. Denn wohin das Gegenteil führt, kann man derzeit beobachten.