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Tage ohne Sonne

Festival Berlin Atonal lockt Tausende Menschen in die betonlastige Dunkelheit des alten Kraftwerks, wo düstere Klänge zwischen Post-Industrial, Techno, Dub und experimentelle Videokunst lauern

„Graver“ heißt in den USA die Kombination aus Gothic- und Techno-Ästhetik

von Tim Caspar Boehme

Sommer. Das ist eigentlich synonym mit dem Bedürfnis nach Wärme, die nicht technisch erzeugt wird, sondern vom Himmel herab gratis auf die Haut strahlt. Oder nach Sonnenuntergang von den Hauswänden an die Umgebung abgegeben wird. Ein Wunsch nach viel draußen: Parks, Wiesen, Seen, Flüsse. In die eigene Höhle verziehen kann man sich früh genug wieder im langen, grauen Berliner Winter.

Der Sommer bringt dabei seine ganz spezifischen Spielarten von musikalischer Untermalung mit sich. Aus gegebenem Anlass sei am Rande an Mungo Jerry erinnert, die Schöpfer des Songs „In the Summertime“, der als umsatzstärkster Sommerhit ever gilt – am 20. August spielen die Popveteranen auf der Biesdorfer Parkbühne.

Beim Stichwort Sommer fallen einem rasch eine bunte Reihe solcher sanft heranbrandenden Sommerweisen ein, erbarmungslose Ohrwürmer gewiss, die sich aber weniger durch Stimmungskanonenbeschuss als durch listiges Heranschleichen ins Bewusstsein der Hörer graben: „Sunny Afternoon“ von The Kinks, „Summer in the City“ der Lovin’ Spoonful oder die Young Rascals mit „Groovin’“, durchaus charmante bis großartige altehrwürdige Nummern, die man vielleicht bloß ein bisschen oft gehört hat. In diese Reihe gehören noch „Und es war Sommer“ von Peter Maffay und als einer der jüngeren Beiträge – jedoch sicher nicht an letzter Stelle – Helge Schneider mit dem entwaffnenden „Sommer, Sonne, Kaktus!“

Die Gefühlslage, die einem auf diesem Wege nahegelegt werden soll – Unbeschwertheit, Gelöstheit, womöglich gar Glück – ist zugegebenermaßen simuliert. Was aber nichts an der Legitimität dieser Bemühungen ändert, denn die saisonale Nachfrage nach akustischen Ent­spannungs­hilfen ist nichts Ehrenrühriges. Man kann verfeinerte Mittel wählen – ghanaischen High-Life, Cool Jazz oder leisere Varianten von House (empfohlen sei aktuell das Album „On the Shore“ des kanadischen Wahlberliners Eddie C (siehe Seite 15) –, Hauptsache, man kann lockerlassen.

Warum aber lassen sich dieser Tage gleichwohl Tausende Menschen freiwillig der Sonne und ihrer Energie berauben, um sich in der tageslichtfeindlichen Betonhalle des Kraftwerks zu versammeln? Am Mittwoch nämlich ist es so weit. Dann beginnt die vierte Auflage des wiederbelebten Festivals Berlin Atonal. Und wieder werden sich Menschen in schwarzer Kleidung, viele darunter mit auffälligen Tattoos und großzügigen Piercings, in die finsteren Katakomben voller Schall begeben, um dort bis spät in die Nacht zu verweilen.

„Graver“ sagt man in den USA zu dieser Kombination aus Gothic- und Techno-Ästhetik, verriet mir im vergangenen Jahr eine Besucherin. Das passt als musikalische Schnittmenge ebenfalls auf eine signifikante Menge an Künstlern des Festivals. Wobei man sagen muss, dass Mungo-Jerry-Sänger Ray Dorset mit dem schwarzen Netz-T-Shirt, das er im Originalvideo zu „In the Summertime“ von 1970 trug, auch bei Atonal gar keine schlechte Figur gemacht hätte.

Für den 24. August sind – bis auf weiteres – warme Temperaturen und sonniger Himmel angekündigt. Ab 18 Uhr ist damit Schluss, sofern man sich zum Eröffnungskonzert mit dem Elektronik-Alleskönner Max Loderbauer begibt, der den Minimal-Music-Klassiker „Piano Phase“ des Komponisten Steve Reich von 1967 auf einem Buchla-Synthesizer darbieten wird. Der Elektronikpionier Don Buchla entwickelte seine ersten Synthesizer parallel zu Bob Moog in den sechziger Jahren, als auch Reichs Stück entstand. Die Kombination ist historisch daher allemal sinnfällig.

Überhaupt historisch: Seit dem Relaunch 2013 – in seiner ursprünglichen Form diente Atonal während der achtziger Jahre als Sammelbecken für Postpunk- und Post-Industrial-Krachmacher – hat sich das Festival gern mit Ehrengästen der höheren Semester geschmückt. Nicht alle von ihnen sind noch am Leben, so etwa der im Frühjahr gestorbene Komponist und Filmemacher Tony Conrad, der 2015 bei Atonal zum letzten Mal in Berlin auftrat. Zu hören waren in den vergangenen Jahren ebenso der experimentierfreudige Trompeter Jon Hassell, Gitarrenwandbaumeister Glenn Branca, der Industrialveteran Richard H. Kirk von Cabaret Voltaire oder Synthesizerpionier David Borden.

Dieses Jahr ist die Zahl der Nestoren übersichtlich, mit Peter Zinovieff jedoch ist ein veritabler Synthesizer-Altmeister vertreten, der ähnlich wie Moog und Buchla weit vorn dabei war. Zinovieff, Jahrgang 1933, prägte mit seiner Firma EMS und insbesondere dem Modell VCS3 in den sechziger Jahren den Klang von britischer psychedelischer Musik. Der russischstämmige Brite ist eigentlich promovierter Geologe, begann sich aber früh für elektronische Musik zu interessieren und betrieb mit EMS einen der ersten kommerziellen Anbieter von Synthesizern. Bis heute arbeitet er als Komponist, bei Atonal präsentiert er gemeinsam mit der britischen Cellistin Lucy Railton die Uraufführung seines Werks „This“.

Daneben gibt es die inzwischen zum Kernprogramm des Festivals zählenden Stars des düster-dräuenden Technos von heute, darunter Musiker wie der New Yorker Ron Morelli, zugleich Betreiber des Techno-Labels L.I.E.S., oder TM404, das jüngste Acid-Techno-Solovorhaben des schwedischen Produzenten Andreas Tilliander. Daneben freiere elektronische Arbeiten von der in Berlin lebenden Italienerin Marta Zapparoli oder den beiden japanischen Wahlberlinerinnen vom Synthesizerduo Group A. Im weitesten Sinne alles beim Alten. Für die Sonne sind andere zuständig.

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