Warten auf das Ferienende

Unterricht Eigentlich sollten alle Flüchtlingskinder längst zur Schule gehen, die zu Jahresbeginn nach Berlin gekommen sind. Doch das hat nicht geklappt, wie das Beispiel aus der Flüchtlingsunterkunft Ruschestraße zeigt. Nach dem Sommer soll alles besser werden

Wie spricht man „Frisör“ bloß richtig aus? Eine Ehrenamtlerin gibt Deutschunterricht in der Lichtenberger Flüchtlingsunterkunft Ruschestraße Foto: Carsten Janke

von Carsten Janke

Morgens um 7 Uhr in Lichtenberg: Dutzende Kinder mit viel zu große Mappen stehen an der Ampel vor der Flüchtlingsunterkunft Ruschestraße und warten darauf, dass es grün wird. In jeder Gruppe gibt es einen Erwachsenen: Männer in Sportjacken oder Frauen mit Kopftuch begleiten die Kinder. Als die Ampel auf grün springt, laufen die Erwachsenen zügig los, die Kinder traben in kurzen Schritten hinterher. Manche verschwinden in der U-Bahn-Station, andere gehen weiter bis zur Straßenbahn.

Kurz vor den Sommerferien waren es immerhin schon einige Dutzend Kinder, die so aus der größten Flüchtlingsunterkunft in Lichtenberg in die Schule aufbrachen. Lange Zeit war es nicht klar, wann sie überhaupt zur Schule gehen können – obwohl sie eigentlich vom ersten Tag an schulpflichtig sind. Es gab schlicht nicht genügend Schulplätze für sie.

Einer, der Glück hatte, ist der 27-jährige Alihossei Noorollahi, der im Dezember aus dem Iran nach Deutschland gekommen ist. Sein Sohn ist neun Jahre alt und geht seit zwei Monaten hier zur Schule. Morgens bringt Noorollahi ihn zwei Haltestellen weit mit der Straßenbahn zur Schule. Seinem Sohn „gefalle es dort sehr gut“. Das einzige Problem: In der Klasse, die speziell für Flüchtlinge eingerichtet wurde, sprechen alle anderen Kinder Arabisch und sein Sohn könne eben nur Persisch. Lange Zeit habe er deshalb keine Freunde gefunden. Inzwischen fange er aber an, sich mit den anderen Kindern auf Deutsch zu unterhalten. „Eine erstaunliche Entwicklung“, findet sein Vater.

Geflüchtete Kinder und Jugendliche müssen in Deutschland zur Schule gehen, allerdings unterschiedlich zügig: In Berlin, Hamburg oder dem Saarland beginnt die Schulpflicht gleich nach der Ankunft, in Bayern und Thüringen nach drei Monaten, in Baden-Württemberg nach sechs.

Weil viele Tausend Flüchtlingskinder in den letzten Monaten nach Berlin gekommen sind, hat das Land massiv in mehr Willkommensklassen investiert. Das sind Schulklassen, in denen Flüchtlinge und andere zugewanderte Kinder auf den Regelunterricht in deutscher Sprache vorbereitet werden sollen. Inzwischen gehen etwa 12.200 Kinder in solche Klassen, mehr als doppelt so viel wie noch vor einem Jahr.

Vielleicht nach den Ferien

Wenn man die zuständigen Stellen fragt, ist das Problem mit dem Schulbesuch in der Lichtenberger Flüchtlingsunterkunft längst gelöst. Alle Kinder dort können demnach zur Schule gehen. Aber wer die Unterkunft vor den Ferien besucht, merkt: Nein, noch gehen viele Kinder dort nicht zur Schule – und sie wissen auch nicht, ob es nach den Ferien klappt.

Viele von ihnen sitzen im Gemeinschaftsraum oder rennen durch die Gänge. Auch die Bewohner bestätigen diesen Eindruck. Zum Beispiel der 28-jährige Afghane Amini Heshmatulah. Er ist im November mit Frau und drei Kindern nach Deutschland gekommen. Stolz zeigt er Kinderfotos auf dem Smartphone. Zur Schule geht bislang keines von ihnen: „Inzwischen heißt es, vielleicht nach den Ferien.“ Aber eine Bestätigung vom Schulamt habe er bislang nicht bekommen.

Laut dem „Masterplan Integration und Sicherheit“ setzt das Land Berlin bei der Integration von jungen Geflüchteten auf den „frühestmöglichen Zugang zu Sprache und Bildung“. Trotzdem gibt es Fälle wie den von Heshmatulah, der seit über acht Monaten darauf wartet, dass seine Kinder hier zur Schule gehen können. Warum klappt das nicht?

Die Probleme sind besonders gravierend rund um Großunterkünfte wie die in Lichtenberg, wo mehr als 1.000 Bewohner zusammen leben und viele Kinder einen Schulplatz benötigen. „Im Vergleich zu anderen Flüchtlingsunterkünften sind wir hier spät gestartet“, sagt Bernhard Schmidt. Er leitet für das DRK die Unterkunft in einem Plattenbau mit dreizehn Etagen. „Als wir im November öffneten, gab es schon kaum noch Schulplätze in der Umgebung“, so Schmidt weiter. Seitdem habe man unermüdlich versucht, neue Plätze an den Schulen aufzutun. Monatelang sei er dafür „Klinken putzen“ gegangen. „Wir haben jedes Kind gefeiert“, sagt Schmidt über die Tage, wenn er mit seinen Kollegen wieder ein Kind an einer Schule untergebracht hatte.

Amini Heshmatulah wartet seit Monaten, dass seine Kinder zur Schule können

Doch es gab auch Probleme mit der Verwaltung, die sich im Gerangel um Zuständigkeiten verstrickte. Ein Beispiel sind die Gesundheitsuntersuchungen, die jedes Kind braucht, bevor es zur Schule gehen kann. Monatelang stritten Senat und Bezirk darüber, wer dafür zuständig sei. Das Lichtenberger Gesundheitsamt hatte kaum Termine frei. Wieder drängten die Angestellten in der Flüchtlingsunterkunft Ruschestraße auf eine Lösung. Und der Senat fand sie: Im Juli wurden zwei Reisebusse organisiert, welche Hunderte Kinder zu der Erstaufnahmestelle Bundesallee brachten. An zwei Tagen führten dort Ärzte der Charité die Untersuchungen zentral durch.

Eigentlich sollten inzwischen alle Hürden beseitigt sein. Aber warum wissen manche Eltern immer noch nicht, wann ihr Kind zur Schule gehen kann? Beim Bezirk heißt es, vielleicht seien Sprachprobleme schuld. Eigentlich sollten alle eine Benachrichtigung vom Schulamt erhalten haben. Die Senatsverwaltung betont: Sollte es jetzt immer noch schulpflichtige Kinder geben, die nicht zur Schule gehen, dann sei das „eigentlich nicht gewünscht“.

So richtig wird man erst nach den Sommerferien wissen, ob wirklich alle Flüchtlingskinder zur Schule gehen können. Doch dann wartet schon die nächste große Herausforderung: Kinder und Jugendliche, die nicht unter die Schulpflicht fallen, weil sie unter fünf oder über 16 Jahre alt sind. Für sie müssen Hunderte Kitaplätze oder Plätze an Berufsschulen organisiert werden.

Vielleicht hilft für diese Aufgabe der Optimismus, den sich der Afghane Heshmatulah bewahrt hat. Trotz der Warterei fühle er sich in Deutschland willkommen: „Die Deutschen sind gut organisiert. Sie schaffen das.“