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Regierung vertagt Rentenstreit

Alterssicherung Arbeitsministerin Nahles will ihr Konzept im Herbst vorstellen. Gewerkschaften und Arbeitgeber bereiten sich auf heftige Kämpfe vor

Angst vor Altersarmut: Das Rentenniveau soll weiter sinken Foto: Julian Stratenschulte/dpa

BERLIN dpa/taz | Für Millionen Bundesbürger ist das Thema hochsensibel – und nach der Sommerpause wird es bei der Rente ernst. Noch ist völlig ungeklärt, ob Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) mit ihrem Gesetzesvorschlag für eine Ost-West-Rentenangleichung bis 2020 beim Koalitionspartner durchkommt – da streitet sich die Regierung über die Zukunft der gesetzlichen Rente.

Die Koalition hat es vor allem SPD-Chef Sigmar Gabriel zu verdanken, dass sie das heikle Thema Rentenniveau auf dem Tisch hat. Im Frühjahr kündigte er einen Kurswechsel weg von der Reformagenda unter Ex-Kanzler Gerhard Schröder an. Das Rentenniveau müsse stabilisiert werden. CSU-Chef Horst Seehofer forderte hingegen höhere Bezüge für breite Schichten – die Rentendebatte war da. Nahles blieb nichts anderes übrig, als die heikle Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen, schon allein, um die Debatte zu kanalisieren. Im Herbst will die Ministerin ihr Rentenkonzept vorstellen.

Auch die Gewerkschaften wollen nach den Sommerferien beim Thema Rente aktiv werden – mit groß angelegten Kampagnen für ein höheres Rentenniveau. Gabriels und Seehofers Vorstöße zeugen „von einer gewissen Nervosität“, sagt Verdi-Chef Frank Bsirske. Und fügt selbstbewusst hinzu: „Die ist auch angebracht.“ Bsirskes Diagnose: „Die Gesellschaft wird reicher und reicher, doch sie scheint ärmer und ärmer zu werden. Diese Paradoxie werden die Menschen nicht mehr akzeptieren.“

Die Gewerkschaften, neben Verdi auch der DGB und IG Metall, verfolgen mit ihrer Rentenkampagne zwei Ziele: den Kampf gegen Altersarmut sowie eine auskömmliche Rente für die Mittelschicht. Derzeit liegt das Rentenniveau – das Verhältnis von Rente nach 45 Jahren Arbeit zum Einkommen – bei 47 Prozent. Laut Prognosen soll es bis 2030 auf etwas mehr als 44 Prozent sinken. Die Politik – so das Kalkül der Gewerkschaftsbosse – soll die Debatte vor der Bundestagswahl 2017 nicht mehr loswerden.

Die Arbeitgeber sind alarmiert. Die Volksparteien leiden unter AfD-Konkurrenz und sinkendem Zuspruch. Den Ausweg dürften sie nun nicht in teuren Rentengeschenken suchen, warnt der einflussreiche Verband Gesamtmetall. „Schon heute investiert der Staat nicht genug in die Zukunft“, sagt Hauptgeschäftsführer Oliver Zander.

Nach seiner Sicht müsste er das aber, damit das Rentenniveau steigt. „Für ein Rentenniveau von 53 Prozent müsste der Beitragssatz auf 25 Prozent steigen und der Bundeszuschuss müsste auf über 100 Milliarden Euro wachsen“, rechnet Zander vor. Heute liegt der Beitragssatz bei 18,7 Prozent, der Bundeszuschuss noch unter 90 Milliarden Euro.

Gewerkschafter Bsirske macht eine ganz andere Rechnung auf: „Ein Babyboomer des Jahrgangs 1964, der 2012 2.500 Euro brutto verdiente, kann nach 40 Arbeitsjahren 2030 nur mit einer Rente von 786 Euro rechnen.“ Ein Drittel der Beschäftigten hätte sogar noch weniger Einkommen. „Elf bis zwölf Millionen Arbeitnehmer laufen auf Hartz-IV-Anspruch im Alter und Altersarmut zu“, mahnt er. „Hier tickt eine soziale Zeitbombe.“

„Gabriels und Seehofers Vorstöße zeugen von Nervosität“

Verdi-Chef Frank Bsirske

Für Oktober hat Nahles Arbeitgeber, Gewerkschaften und Sozialverbände zu einem Spitzentreffen zur gesetzlichen Rente eingeladen. Dann sollen alle strittigen Punkte verhandelt werden. Sozial- und Finanzministerium setzen weiter auf mehr betriebliche und private Vorsorge. Betriebsrenten könnten den Druck auf die gesetzliche Rente mindern.

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