Berliner Szenen: Post von Dr.-Dipl. Dipl.-Ing.
Sei gelassen
Wieder landet ein Manuskript auf meinem Schreibtisch. Von einem Dr.-Dipl. Dipl.-Ing.: „Eine kritische Resonanz auf (Ver)führungsmechanismen des Establishments“. Dem Exposé entnehme ich: „Nach allem, was hin und wieder vor deutschen Mikrofonen aufpoppt, sind unsere medienflutschigen Exegeten diktionaler Schikanen, kaum mehr darin zu überbieten, über kleine Inhalte viel zu sprechen und dabei wenig Gehaltvolles einzureichen.“ Dr.-Dipl. schreibt, er wäre dankbar, wenn ich ihm schnell antworten würde, weil er das Buch noch vor der Bundestagswahl herausbringen möchte.
Hunter Thompson hätte ihm geantwortet: „Schick uns nie wieder diese Art von hirnzerfressendem Schweinefutter. Wenn ich Zeit habe, mache ich mich auf den Weg zu dir und treibe dir einen Holzpflock in die Stirn … Sincerely.“ Die „Gonzo-Briefe“, ein 600-seitiges Monumentalwerk, das auch diesen Brief enthält, habe ich einer Jury geschickt, die prüfen will, ob ich für einen Verlegerpreis infrage komme, für den ich nominiert wurde. Wahrscheinlich zu unseriös.
Dr.-Dipl. schreibe ich nicht, was Hunter Thompson von ihm halten würde. Inzwischen habe ich einen weiteren Briefumschlag geöffnet, der zwei Belegexemplare von Reclam enthält. Eine Anthologie mit Texten von Aristoteles, Epikur, Theodor Fontane, Egon Fridell, Baltasar Gracián, Heidegger, Hölderlin, Jean Paul, Konfuzius, Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Kurt Tucholsky und mir: „Sei gelassen. Gedanken. Anregungen. Ruhepunkte“.
Ich hatte das ganz vergessen, aber jetzt, wo das giftgrün und mittelmeerblau strahlende Büchlein vor mir liegt, überkommt mich eine große innere Ruhe. Ich schreibe Dr.-Dipl.: „Vielen Dank für die Zusendung Ihres Manuskripts, aber leider verlegen wir nur seriöse Bücher.“ Vor allem das „leider“ gefällt mir gut. Klaus Bittermann
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