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Nutztiere Agrarökologe Teja Tscharntke erklärt, was Menschen durch das Schwinden der Artenvielfalt verlieren – und warum der bedrohliche Rückgang der Bestäuber-Populationen mehr Aussagekraft hat als die wie auch immer erfreuliche Rückkehr charismatischer Großsäuger„Tatsächlich sind Insekten ja wunderschön“

Interview Benno Schirrmeister

taz: Herr Tscharntke, seit Wolf und Luchs sich wieder hier ansiedeln, denkt man, die Lage bei der Artenvielfalt hätte sich gebessert – trügt der Eindruck?

Teja Tscharntke: Ja, so ist es – wenn man ihn an einigen wenigen großen Wirbeltieren festmacht. Es ist natürlich sehr erfreulich, dass geschafft wurde, solche spektakulären Großsäuger hier wieder anzusiedeln. Aber sie sind nicht repräsentativ für die Tierwelt, in der sie nur eine sehr kleine Fraktion ausmachen. Denn 70 Prozent aller Tierarten in Deutschland sind Insekten: Es gibt bei uns rund 33.000 Insektenarten, aber nur 104 Säugetierarten.

Und die Insekten werden übersehen?

Ja. Manchmal stört mich das richtig: Neulich war ich in einem Naturschutzgebiet zum Spazierengehen und auf den Infotafeln stand, dort kämen 150 Tierarten vor.

Wo ist das Problem?

Das ist eine völlige Unterschätzung! In Wirklichkeit kommt in dem Gebiet sicher das Zehnfache an Arten vor – von denen aber die meisten nicht identifiziert wurden.

Das sind noch immer so viele?

Ja, bei den Insekten trifft man auf große Artenzahlen.

Zugleich gelten etliche von ihnen als bedroht: Kann man sagen, wie viele Insekten in Norddeutschland schon verschwunden sind?

Kaum: Einerseits ziehen infolge der Klimaveränderung mittlerweile einige Arten aus dem Süden hier bei uns ein, und das kompensiert Artenverluste durch das mögliche Aussterben. Andererseits ist eine Bestandsaufnahme der Verluste schwierig, weil etwa die Hälfte der Arten, die wir haben, selten und kaum bekannt sind. Der Nachweis, dass eine von Haus aus seltene Art verschwindet, ist ausgesprochen schwer.

Logisch.

Teja Tscharntke

64, Biologe, Professor für Agrarökologie an der Göttinger Georg-August-Universität, forscht zu Biodiversität und ihren Auswirkungen auf gemanagte und sich selbst überlassenen Ökosystemen.

Bei Vögeln ist das schon deutlich leichter, weil es viele Leute gibt, die diese Arten als Hobby beobachten und dann zu umfangreichen Meldelisten beitragen.

Insekten fallen eher auf, wenn sie stören?

Das sind Arten, die lästig sind, wie beispielsweise Faltenwespen, die ins Marmeladenglas kriechen, Moskitos, die den Urlaub vermiesen, und Ungeziefer, das in wärmeren Regionen schon mal die Betten bevölkert. Aber tatsächlich ist jede Wiese voller Insekten – auf einem Hektar schätzungsweise um die 1.500 Arten – mit einer großen Menge sehr wichtiger Funktionen: Viele sind als Pflanzenfresser oder für die Streuzersetzung wichtig, andere regulieren als Räuber ihre Beute-Populationen. Bestäuber sorgen dafür, dass Pflanzen sich reproduzieren. Das sind alles elementare Funktionen, die im Hintergrund ablaufen und die jeder als selbstverständlich wahrnimmt. Sie sind versteckte Gratisleistungen der Natur.

Könnte man eine Sympathieoffensive für Insekten starten?

Tatsächlich sind Insekten ja wunderschön, wenn man sie sich näher anguckt. Selbst winzige, millimetergroße Tiere erweisen sich, unter der Lupe betrachtet, oft als ausgesprochen farbenprächtig: Sie sind ganz filigran und schlichtweg sehr hübsch.

Aber das sieht kaum jemand?

Nein, sie werden so nicht wahrgenommen. Dieses Kleinviehzeug gilt oft als lästig und überflüssig, man tut es als Mücken ab, auch wenn es sich zum Beispiel um kleine Wespen handelt. Allerdings gibt es auch populärere Insektenarten.

Welche denn?

Ganz sicher die Tagschmetterlinge, die allgemein sehr positiv belegt sind. Aber das hört schon bei den Nachtschmetterlingen auf – die als Motten zum Licht kommen und dann vielleicht das Balkonleben stören. Große Käfer werden auch als positiv registriert, beispielsweise Hirschkäfer und Bockkäfer. Aber auch dabei handelt es sich nur um einen winzigen Ausschnitt der zahllosen Käferarten. Viele kleine Käfer werden nicht einmal als solche erkannt. Es wird mittlerweile alljährlich ein Insekt des Jahres gekürt, das ein wenig die Aufmerksamkeit auf die große Gruppe der Insekten lenken kann. Aber das hat nur eine begrenzte Wirkung. Mit der Popularität von Säugetieren oder Vögeln können Insekten auf lange Sicht sicher nicht konkurrieren.

Möglicherweise auch, weil man sich schwer vorstellen kann, was man durch den Verlust der Insekten verliert, wenn man die Funktionen, die sie erfüllen, als Gratisgabe der Natur auffasst?

Das ist richtig. Besonders auffällig ist die Bestäubungsleistung durch Bienen, auch eine Insektengruppe, die in der öffentlichen Wahrnehmung positiv besetzt ist. Die Bestäubungseffekte werden leider selbst von vielen Landwirten oft nicht ausreichend wahrgenommen.

Sind die denn so entscheidend?

Aber ja. Weltweit leisten Bestäuber einen Beitrag für ein Drittel der Nahrungsmittelproduktion.

Ach, sind Mais und Weizen und so weiter nicht alles Selbstbestäuber?

Doch. Viele Grundnahrungsmittel, Getreide, Mais, Hirse, Reis, brauchen keine Bestäuber aus dem Tierreich. Aber es gibt noch sehr viele andere bedeutsame Lebensmittel: Laut FAO, der Organisation für Ernährung und Landwirtschaft der Vereinten Nationen, werden 75 Prozent der wichtigsten Nutzpflanzen durch tierische Bestäubung positiv beeinflusst. Das entspricht etwa 35 Prozent der gesamten Nahrungsmittelproduktion: Es handelt sich also nicht nur um eine kleine Randerscheinung, sondern betrifft praktisch alle Nüsse, einen Großteil der Früchte, auch Kakao und Kaffee. Nehmen Sie nur mal die Erdbeer- und Kirschproduktion, die wir jetzt genießen. Dafür spielen Bienen eine große Rolle, da sie erhebliche Ertragssteigerungen bedingen können.

Können das Landwirte denn beeinflussen und nutzen?

Wenn die Umgebung von Kirsch- und Erdbeerplantagen bunt und strukturreich ist, sodass es viele Lebensräume und entsprechend auch viele Wildbienen gibt, kommt man leicht auf doppelt so hohe Erträge wie in ausgeräumten Landschaften. Leider versucht man oft nach wie vor, die Erträge nur durch Düngung und Pflanzenschutzmittel zu steigern, wenngleich sich sehr gut zeigen lässt, dass die Bestäuber eine zentrale Rolle spielen: Das haben wir beispielsweise in den Kirschplantagen um Witzenhausen bei Göttingen durch eigene Untersuchungen belegt.

Wie lässt sich das zeigen?

Beispielsweise, indem man experimentell die Bestäuber ausschließt. Das führt zu deutlichen Einbußen. Und indem man durch Handbestäubung einen maximalen Fruchtansatz erreicht, den man dann mit dem tatsächlichen Ernteergebnis vergleicht.

Nun drohen laut Welt-Artenvielfalts-Rat zwar die Wildbienen in Nordwesteuropa zu verschwinden – aber dafür boomt die Imkerei wieder.

Da haben Sie Recht, und dieser Boom ist sehr erfreulich. Das hätte man vor wenigen Jahren kaum zu träumen gewagt, da waren die Imkervereine überaltert und die Anzahl der Bienenstöcke ging dramatisch zurück.

Kompensiert das nicht den Wegfall der Wildbienen?

Nein, leider nicht: Gerade erst gab es in Science eine umfassende Analyse, die zeigt, dass wild lebende Insekten, vor allem Bienen, viel effektivere Bestäuber sind als Honigbienen. Sie spielen eine unschätzbare Rolle, gerade auch für Nutzpflanzen. Honigbienen sind wichtig durch ihre große Anzahl, aber Wildbienen sind pro Blütenbesuch deutlich effizienter und für die Ertragsunterschiede häufig verantwortlich: Bei unseren Kirschenuntersuchungen hat sich gezeigt, dass zwar zwei Drittel der Blütenbesucher Honigbienen waren, aber den Ertrag gesteuert hat das eine Drittel der Wildbienen.

Wie kommt das?

Ein wichtiger Punkt ist, dass Honigbienen dazu neigen, von Blüte zu Blüte zu fliegen, ohne den Baum zu wechseln. Damit transportieren sie oft den genetisch identischen Pollen von Blüte zu Blüte. Wichtig für den Ertrag ist aber, dass es zu einer Kreuzbestäubung kommt. Außerdem sind Wildbienen schneller und wendiger, und diese „produktive Unruhe“ kann auch Honigbienen stören und veranlassen, die Pflanzen zu wechseln. Es ist die Kombination von Wild- und Honigbienen, die den Bestäubungserfolg ausmacht. Man sollte nicht die eine Gruppe gegen die andere ausspielen. Beide sind wichtig.

Was lässt sich gegen das Verschwinden der Wildbienen tun?

Die wichtigste Ursache ist, dass die Landschaften in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr ausgeräumt wurden. Die meisten Arten leben nicht nur in einem Lebensraum, sondern überleben dank vieler, nebeneinander existierender Lebensräume in der Kulturlandschaft. Wenn in den Landschaften Strukturelemente fehlen wie Hecken, Brachen, Grünland, Waldränder und sie nur durch landwirtschaftliche Nutzung dominiert sind, verschwinden die meisten Arten. Die Zerstörung von Lebensräumen ist weltweit der wichtigste Faktor des Artenrückgangs.

… der durch massive Düngung verstärkt wird?

Das kommt hinzu. Die Überdüngung sorgt dafür, dass die Pflanzenlebensgemeinschaften verarmen, weil sich wuchskräftige Arten, die auf Dünger gut ansprechen, durchsetzen. Das hat Auswirkungen auf die Insekten, namentlich die Bienen. Und schließlich ist der Insektizideinsatz zu nennen: Seit einigen Jahren in der Diskussion sind die Neonicotinoide, die nicht nur unmittelbar die Mortalität erhöhen, sondern auch indirekt Verhaltensstörungen verursachen.

Wie denn?

Sie sorgen dafür, dass Honigbienen nicht mehr zurück zu ihrem Stock finden und Hummeln keine Königinnen mehr produzieren, also im Folgejahr nicht mehr so präsent sind. Diese indirekten Effekte sind hochproblematisch – und sie werden nicht erfasst, wenn man nur auf die letale Dosis geht, wie das bei Zulassungsprüfungen häufig der Fall ist.

Dann sägen die Bauern am Ast, auf dem sie sitzen?

Das wäre mir eine zu pauschale Aussage. Man muss ja erst mal anerkennen, dass die Landwirtschaft bei uns auch ein Erfolgsmodell ist: In den letzten 100 Jahren hat sich bei uns die Weizenproduktion pro Fläche vervierfacht, die Stabilität der Erträge und die Lebensmittelsicherheit ist hoch – das ist ein hohes Gut, selbst wenn man den Artenrückgang beklagt. Es stellt sich aber die Frage, bis zu welchem Punkt man die Intensivierung der Landwirtschaft weiter treiben kann. Man sollte dabei auch nicht aus den Augen verlieren, wie es in Ländern ausschaut, in denen diese Lösungen mit großem Agrochemikalien-Einsatz nicht in Betracht kommen. In den tropischen Ländern, in denen Armut und Hunger regieren, ist es sehr viel wichtiger als bei uns, auf natürliche Regulationsmechanismen zu achten. Dort haben die Bauern oft gar nicht die Möglichkeit, große Mengen an Agrochemikalien zu kaufen. Zudem ist in diesen Ländern der Schädlingsdruck sehr viel höher und ganz allgemein der Umweltstress größer, sodass verbesserte Stabilisierung und geringe Störungsanfälligkeit der Agrarökosysteme eminent wichtige Aufgaben werden.

Das heißt …?

Das heißt, sie müssen sehr viel robustere, sich selbst regulierende Produktionssysteme anlegen.

Ketzerisch gesagt könnte eine staatliche oder konzerngesteuerte Landwirtschaft doch diesen höheren Druck auch mit mehr Agrochemie bekämpfen – wo wäre das Problem?

Sie können schnell zeigen, zum Beispiel durch den experimentellen Ausschluss von Feinden von Getreideblattläusen, dass Blattläuse ohne natürliche Gegenspieler ein Vielfaches an Befallsdichten erreichen. Das heißt, wenn es keine Spinnen und räuberischen Käfer auf dem Boden mehr gibt, von denen die Blattläuse sonst gefressen werden, wenn die kleinen parasitischen Blattlaus-Wespen fehlen und keine Marienkäfer, Florfliegen, räuberische Gallmücken und Schwebfliegen mehr vorkommen, um mal ein paar wichtige Gruppen zu nennen, die von den Blattläusen leben.

Aber?

Auf der anderen Seite kann man das Läuseproblem natürlich auch mit Insektizidspritzungen erledigen. Das führt zu der Frage, was die Gesellschaft will. Wenn sie auch landwirtschaftliche Biodiversität und die damit verbundenen natürlichen Regulationsmechanismen will und den Rückgang der Artenvielfalt stoppen möchte, müsste es entsprechende staatliche Regelungen geben. Dann hätte jeder Landwirt sehr viel mehr Interesse, solche natürlichen Mechanismen zu stärken.

Während die Wirksamkeit der Insektizide endlich scheint – oder stellen sich die Schädlinge darauf nicht ein?

Doch, das ist bis jetzt noch immer der Fall gewesen. Das ist auch bei den hauptsächlich verkauften Pestiziden der Fall: Auch gegen die Neonikotinoide gibt es Resistenzen. Die chemischen Lösungen halten nicht auf Dauer. Das läuft also auf ein ewiges Wettrennen zwischen Resistenzentwicklung bei den Schädlingen und neuen Formulierungen bei den Insektiziden hinaus. Die Schädlingsregulation durch natürliche Gegenspieler ist von solchen Resistenzen nicht betroffen: Denn sie erzeugt keinen so einseitigen Selektionsdruck wie bei der chemischen Variante. Der Nachteil ist allerdings, dass die natürliche Regulation oft nicht ausreicht, wenn es um Massenvermehrungen von Schädlingen geht. In einem extremen Blattlausjahr kommen oft die natürlichen Gegenspieler nicht hinterher.

Darauf kann ich mich nicht einstellen?

Nein. Deshalb ist es nachvollziehbar, wenn sich ein Landwirt mit seinem betriebswirtschaftlichen Interesse, die Ernte zu sichern, darauf nicht einlassen will. Das kann man ihm nicht verdenken. Es geht ja um sein Einkommen. Trotzdem muss man versuchen, den Einsatz von Agrochemikalien zu minimieren, weil sie erhebliche gesellschaftliche Kosten verursachen, die eben nicht in die allgemeine marktwirtschaftliche Kalkulation einbezogen werden. Dazu gehört, Biodiversitäts-freundliche Anbausysteme zu fördern und zu entwickeln. Zu den gesellschaftlichen Kosten ohne Marktpreis gehört der Rückgang der Artenvielfalt, die zunehmende Instabilität unserer Ökosysteme und die Stickstoffbelastung, die unter anderem gesundheitliche Probleme verursacht. Laut Stickstoffbericht der EU fallen volkswirtschaftliche Kosten von 70 bis 320 Milliarden Euro jährlich durch die Stickstoffverluste an. Das ist eine unglaubliche Summe – die höher liegt als der landwirtschaftliche Gewinn durch Stickstoffdüngung. Auch diese immensen Kosten spielen fürs neoliberale Marktgeschehen keine Rolle.

Das heißt aber auch, wenn es kein Problem des Marktes ist, kann es auch der Markt nicht lösen, sondern nur die Gesellschaft, also die Politik?

So ist es. Die Gesellschaft und staatliche Institutionen müssten viel rigider darauf achten, dass nur bedarfsgerecht gedüngt wird. Dasselbe gilt für den Pestizideinsatz, der auch zu minimieren ist. Ebenso sollte man politisch darauf hinwirken, dass der Strukturreichtum unserer Landschaften gefördert wird – und zum Beispiel Umweltmaßnahmen vorzugsweise in den ausgeräumten Landschaften zum Einsatz kommen, weil sie dort besonders effizient sind. Die bunten Landschaften sind ohnehin schon artenreich. Wichtiger ist es, Hecken dort einzuziehen, wo man bis zum Horizont nur noch Acker sieht. In diesem Bereich könnte man sicher vieles machen.

Und was hindert uns daran?

Es ist schlicht eine Frage, was gesellschaftlich gewollt ist. Und ob die Agrarlobby oder andere Interessen sich durchzusetzen.

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