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Berliner SzenenRaußschmiß

Alle haben Hunger

Dem „Chef“ gefällt es nicht, Widerspruch zu erhalten

Wie lange sich unsere Freundin verspäten wird, will der Kellner wissen. Fünf Minuten, sagt Cansu. Der Kellner schnauft und geht.

Das Restaurant am Hermannplatz gehört zu den mythischen Essensorten in Berlin: Alle gehen dahin, weil alle dahin gehen – oder vielleicht, weil es im Reiseführer als „Geheim-Tipp“ steht. Das Essen ist gut, aber nicht extraordinär. An diesem Abend ist es ruhig, sonst warten viele Leute vor dem Laden. Warum stellen sich, je länger die Schlange ist, desto mehr Leute freiwillig an? Fragt mich Cansu und versucht erfolglos ihre Freundin zu erreichen.

Wir reflektieren über Menschen als Rudeltiere, bis der Kellner uns unterbricht. „Möchten Sie bestellen?“, fragt er, als ob er uns noch nie gesehen hätte. „Danke, noch nicht. Wir warten noch auf jemanden.“ Als der Kellner geht, bekommt Cansu ein SMS: „Es dauert noch, ich bin in der U8“.

Der Kellner kommt zurück, diesmal mit Verstärkung. Türsteher oder Sicherheitspersonal gibt es hier nicht. Ist es vielleicht der Chef?

Wir sollten keinen Tisch so lange besetzen, ohne zu bestellen, andere Kunden warteten und hätten wirklich Hunger, sagt derjenige, den ich nun wirklich für den Chef halte. Geduldig erklären wir ihm, dass wir auch Hunger haben. Und gleich werden wir zu dritt bestellen! „Außerdem sind noch freie Plätze da“, protestiert Cansu. Dem „Chef“ gefällt es nicht, Widerspruch zu erhalten. Jedenfalls reagiert er ungehalten: „Dann können Sie direkt irgendwo anders gehen! Sie müssen nicht hier essen“, sagt er.

„Das stimmt, da haben Sie recht“, sagt Cansu plötzlich wütend und gibt ihm brüsk die Karte zurück. „Wir müssen nicht hier essen!“

Einige Meter entfernt winkt schon die Freundin. Sie läuft strahlend auf uns zu.

Luciana Ferrando

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