Stadtgespräch
: Keine Angst, zu sprechen

Im Netz berichten ukrainische Frauen von Erfahrungen sexueller Gewalt. Es sind viele. Die Gesellschaft reagiert

Irina Serdyuk aus Kiew

Die ukrainische Aktivistin und Journalistin Nastja Melnitschenko veröffentlichte vor einigen Tagen einen kurzen Text auf ihrer Blogseite: „Ich will, dass heute wir, die Frauen, sprechen. Dass wir über die Gewalt reden, die den meisten von uns angetan wurde. Ich will, dass wir uns nicht rechtfertigen, weil es nicht nötig ist. Wir sind nicht schuldig, Schuld trägt immer der Gewalttäter. Ich habe keine Angst, zu sprechen.“

Der Blogeintrag löste eine Lawine aus. Unter dem Hashtag „Ich habe keine Angst, zu sprechen“ posteten sofort Tausende Frauen Berichte, teils äußerst intime und offene, über eigene schlimme Erlebnisse mit sexueller Gewalt. „Ich war 14, sie waren 40. Ich war Jungfrau, sie waren drei Exknastis. Ich hatte meine Tage, sie – eine Axt?“ Oft ging es bei den Tätern um Freunde und Verwandte. Viele schrieben, dass sie zum ersten Mal im Leben davon sprechen würden. Einigen sei erst jetzt bewusst geworden, dass sie das in der Kindheit oder Jugendzeit Erlebte verdrängt und es als eine schwere Last mit sich herumgeschleppt hätten.

Das Ausmaß ist erschütternd. Laut Statistik wird jede dritte Ukrai­nerin Opfer sexueller Gewalt. Laut männlichen Bloggern, die sich en masse zu Wort melden, um zu erzählen, dass praktisch jede ihnen aus dem Netz bekannte Frau sexuellen Übergriffen ausgesetzt war, ist es eher die große Mehrheit.

Quasi über Nacht ist „Gewalt gegen Frauen“ zu einem Thema von großer gesellschaftlicher Relevanz geworden. „Das ist eine der wichtigsten Aktionen in der Ukraine der letzten Zeit“, sagt Volodymyr Yermolenko von Hromadske TV. Kennzeichnend sei, dass diese Aktion in den sozialen Netzen entstanden ist. Dort sei es wohl einfacher, mutig zu sein.

„Unsere Gesetzgebung geht gegen die Vergewaltiger nicht hart genug vor. Oft wird die Schuld den Opfern zugeschoben. Das dürfte sich jetzt ändern“, fügt Volodymyr hinzu. Sie sei jeder einzelnen Frau sehr dankbar, sagt die Juristin und Parlamentsabgeordnete von der Partei Samopomitsch, Olena Sytnyk. „Eine einzige publik gemachte Geschichte kann das Leben von fünf anderen Frauen ändern. Das ist ein gesellschaftlicher Durchbruch. Ich bin glücklich, dass dieses Tabu endlich gebrochen ist!“

Diese Einstellung teilt nicht jeder in der Ukraine. Den Frauen werden das Bedienen voyeuristisch-exhibitionistischer Gelüste (ein „Festival der Home-Pornos“, empört sich ein User), Hysterie und Hetze vorgeworfen. „Die vielen ‚Ich-habe keine Angst‘-Geschichten ähneln sich. Fast unter jeder finden sich ein bis zwei ‚Selber schuld!‘-Kommentare. Das ist das Widerwärtigste, Ekligste und Schmutzigste, was ich über die Menschen in der letzten Zeit erfahren habe“, schreibt eine FB-Userin.

„Dieser Flashmob zeugt von der Reife der ukrainischen Gesellschaft. Es ist kein Zufall, dass er hier und jetzt entstanden ist. Es handelt sich um die Würde der Frau. Damit schließt er an die Werte des Maidan, der Revolution der Würde, an“, sagt Tetjana Ogarkowa vom Krisenmedienzentrum.

Längst ist der Hashtag über die ukrainischen Grenzen geschwappt. Ähnliche Hashtags sind in den Nachbarländern sowie anderen russischsprachigen Internetsegmenten weltweit entstanden. In der weißrussischen Bloggerlandschaft sorgen Vergewaltigungsanschuldigungen gegenüber einem Abgeordneten und Radio-Swoboda-Journalisten für Aufruhr.

Die Medien in Russland sind bemüht, die Aktion herunterzuspielen. Es sei natürlich viel spannender, sich über Kölner Grabscher auszulassen, als sich Gedanken über die katastrophale Lage der Frauen im postsowjetischen Raum zu machen, schreibt eine russische Menschenrechtlerin bitter.