Schönste Grauwerte

Kunst Berenice Abbott – im Martin-Gropius-Bau – lässt das Motiv sprechen und verhilft ihm dennoch zum eigenen Ausdruck

Berenice Abbott, Flat Iron Building, 1938 Foto: mgb

von Ronald Berg

Ursprünglich wollte Berenice Abbott Bildhauerin werden. Schließlich hat sie aber die plastischen Qualitäten der uns umgebenden Wirklichkeit ins Foto versetzt. Zum Beispiel das Rockefeller Center in New York. Abbott fotografierte die Erbauung des Gebäudekomplexes 1932. Die massiven Stahlträger auf ihrem Foto wirken wie eine abstrakte Skulptur, das Bild selbst ist eine delikate Komposition aus Licht und Schatten. Wie aufgetupft setzen sich die vom Streiflicht beschienen Nieten auf die dunklen Stahlträger und geben dem Bild erst den letzten Pfiff. Man merkt: Hier geht es nicht eigentlich um die Darstellung einer technischen Konstruktion oder die Dokumentation einer besonderen Architektur, sondern hier geht es zuerst um Linien, Masse, Proportionen, kurz um die gelungenen Komposition.

„Jede Fotografie ist immer auch eine Dokumentation“, hat die 1898 in Ohio geborene Amerikanerin einmal gesagt. Doch das Dokumentarische ist Abbot nicht genug. Ihr geht es ums Bild. Abbott hat deshalb sehr genau bedacht, wo und wann sie ihre Kamera aufbaute, um der Fotogenität des Motivs auf die Schliche zu kommen. Abbott benutzte dafür eine große Plattenkamera. Die späteren großformatigen Abzüge von 1979, die jetzt im Martin-Gropius-Bau bei der umfassenden Retrospektive von Abbotts fotografischem Werk zu sehen sind, zeigen deshalb alles in schönsten Grauwerten und scharf bis ins kleinste Detail.

So auch bei Lagerhäusern nahe der Brooklyn Bridge in New York, die Abbott 1936 fotografierte. Die leicht schräg nach recht fluchtende Backsteinfront bildet auch hier ein Muster ganz eigenen Reizes aus, weil die geöffneten Luken mit ihren Läden im Zusammenspiel mit der Sonne ein kräftiges Licht‑ und Schattenspiel erzeugen, das noch am ehesten an die markanten Muster von Damenblusen aus den sechziger Jahren erinnert.

Ist das etwa das surrealistische Erbe von Man Ray, bei dem Abbott 1921 in Paris als Assistentin anfing? Eher nicht, denn Abbott eröffnete schon bald ihr eigenes Porträtatelier, und viele aus der illustren Kundschaft der Pariser Künstlerszene wollten sich nun statt von Man Ray lieber von Abbott ablichten lassen. Offenbar weil Abbott ihre Modelle nicht als Material für eigene Kunstwerke begriff, sondern Porträts machte, die die Reize der Abgebildeten zur Grundlage hatten.

Doch das Dokumentarische ist Abbott nicht genug. Ihr geht es ums Bild

Im Gropius-Bau sind jetzt auch diese Porträts von Leuten wie James Joyce, Jean Cocteau oder Djuna Barnes zu sehen – und natürlich von Eugène Atget, mit dem Abbotts Name untrennbar verbunden ist. Abbott traf Atget, den großen Porträtisten und Chronisten der Stadt Paris, kurz vor dessen Tode 1927. Atget war ein Kautz und Sonderling, aber er hatte den Blick für das Bild, in dem sich eine Stadt wie Paris in ihrer so alltäglichen wie geheimen Schönheit offenbarte. Abbott wurde Atgets Schülerin im Geiste, kaufte dessen fotografischen Nachlass und versuchte, ihn ihr Leben lang zu promoten. Mit ihrem Projekt „Changing New York“ trat sie in die Fußstapfen des verehrten Meisters, auch wenn das erst auf eigene Kappe finanzierte und schließlich mit staatlicher Förderung weiter betriebenen Porträt der Metropole nur über ein paar Jahre in den 30ern andauerte und ungefähr 300 Bilder erbrachte.

Ein umfangreicheres Projekt ist in der aktuellen Ausstellung mit einigen Beispielen vertreten. Abbott hat hier die Szenerie längst der „U.S. Route 1“ parallel zur Ostküste abgelichtet, wieder ähnlich, wie Atget es getan hätte: kleine Läden, kärgliche Interieurs, Reklameschilder. Ein Bild von Amerika, wie es zugleich beiläufiger und typischer nicht sein kann. Abbott bringt hier das visuelle Antlitz der US-Provinz der 50er Jahre auf den Punkt.

Ganz anders sehen die wissenschaftlichen Aufnahmen aus, die Abbott danach zum Teil in Zusammenarbeit mit dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) machen sollte: Visualisierungen von Magnetfeldern, die aussehen wie elegant-abstrakte Kompositionen aus der damaligen Kunstwelt, obwohl sie für Schulbücher benutzt wurden und ihr eine Ehrendoktorwürde einbrachten. Abbott, die 1991 starb, hat auch in ihren wissenschaftlichen Aufnahmen – wie bei Porträt und Stadtansicht – das Motiv sprechen lassen, ihm aber wohl erst zu seinem eigenen Ausdruck verholfen.

Bis 3. Oktober, Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, Mi–Mo 10–19 Uhr