: Der große Aschenbecher
Aussenseiter Es gibt Leute, die ihren Balkon nur zum Rauchen brauchen. Was für eine Verschwendung
Wir begrüßen uns immer freundlich, ein „Hallo“ von Balkon zu Balkon. Und dann raucht er. Ziemlich geschäftsmäßig. Ob er es genießt? Keine Ahnung. Wie er heißt? Auch keine Ahnung. Er zieht einfach ganz unprätentiös seine Zigarette durch – und geht. Zurück bleibt die Kippe.
Um den Raucher herum grünt es. Manche Balkone sehen aus wie Urwälder. Manche wie Musterbalkone auf einer Gartenmesse. Manche wie Küchengärten. Manche ein bisschen kümmerlich. Aber alle sind möbliert – und werden nicht nur als Aschenbecher benutzt.
Wir Nachbarn pflegen miteinander über die Balkone zu sprechen. Meistens über Pflanzen. Wie hat du das hingekriegt? Du kennst dich aber echt aus. Och nö, ich probier nur rum. Mann, habt ihr aufgerüstet. Kannst du nächste Woche gießen? Willst du auch Tomatenpflanzen? Hast du schon Erdbeeren?
Nur mein Nachbar raucht – und schweigt dazu. Ein paar Mal habe ich mich dabei erwischt, wie ich ihm eine Pflanze anbieten wollte. Wie ich dachte: Das kann doch nicht wahr sein! Andere Menschen würden einen Finger opfern für so einen Balkon! Und er? Steht da rum, raucht und lässt die Kippen fallen.
Mittlerweile hat sich das gegeben. Ich finde es okay, dass er einen Sechs-Quadratmeter-Aschenbecher hat. Ich versuche es zumindest. Ich denke jedenfalls nicht mehr, mein Nachbar wäre irgendwie hilfsbedürftig. Das Missionarische ist weg. Vielleicht auch, weil er sonst ein ganz okayer Typ zu sein scheint, so weit man das sehen kann. Dieses Mein-Balkon-ist-schöner-als-dein-Balkon-Rennen ist doch irgendwie auch widerlich. Schließlich braucht jede Gemeinschaft ihren Außenseiter, damit sie ihre Toleranz beweisen kann.
Obwohl: Neulich sah ich auf dem Balkon unter ihm einen neuen Nachbarn im Dunkeln stehen – und rauchen. Wortlos. Muss das auch noch sein?
Jan Kahlcke, 48, ist taz.nord-Redaktionleiter und begeisterter Hobbygärtner.
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