: Konsequent im Hier und Jetzt
Fotografie Das Festival f/stop befragt in Leipzig die Rolle der Fotografie in unserer komplexen Welt und untersucht dazu die Kontexte, in denen das Medium auftritt
von Sarah Alberti
Die Tische vor dem Café sind leer, nur ein Fahrrad steht angeschlossen auf dem Bürgersteig. Es könnte eine dieser Schwarzweiß-Postkarten aus Paris sein: Die Komposition sitzt, das Licht ist gleißend. Das Foto von Bettina Lockemann strahlt vor allem ein aus: Ruhe. Ruhe, die sich beim Blick auf den Titel in gespenstige Stille umwandelt: État d’Urgence. Ausnahmezustand.
Ausnahmezustand im November 2015: Lockemann war zur Paris Photo gereist, der wichtigen Fotomesse. Am 14. November blieb diese geschlossen. Die Pariser waren aufgefordert, ihre Wohnungen nach den Anschlägen vom Vortag nicht zu verlassen. Die Fotografin ging dennoch durch die Stadt, hielt den Ausnahmezustand fest: leere Straßen, keine Besucherschlangen vor dem Centre Pompidou, die internationalen Übertragungswagen der Presse, die auf dem Place de la République darauf warten, das etwas passiert.
Seit Samstag hängt ihre Serie mittendrin im Fotografiefestival f/stop in Leipzig. „The end of the world as we know it ist der Beginn einer Welt, die wir nicht kennen“ – so das titelgebende Zitat aus Andreas Neumeisters 1998 veröffentlichten Roman Gut laut, das auf nahezu alle Fotos passt, die hier gezeigt werden. Vor einem Jahr begannen die Kuratoren Anne König und Jan Wenzel die Arbeit am zehntägigen Festival. Auch sie waren im November in Paris. Ihre Ausstellung soll ermöglichen, News noch einmal anders zu lesen, zu kontextualisieren, zusammenzudenken. Ein gemeinsames Verdauen nannte es Jan Wenzel bei der Eröffnung.
So tönen etwa reproduzierte Zeitungsseiten zu den Anschlägen von Paris deutlich lauter als Lockemanns Schwarzweiß-Serie. Darüber sind gleich einem Memoboard Ausdrucke der Webseiten großer Fotoagenturen wie Magnum oder Getty Images zum Suchbegriff „bataclan“ gepinnt. Es geht den Kuratoren um diesen Clash der Bilder, zu denen neben künstlerischen Arbeiten eben auch Pressefotos, private Schnappschüsse, wissenschaftliche Fotografie sowie Nichtfotografiertes zählen.
Der Rundgang gleicht einem kollektiven Tagebuch – der erste Eintrag: Das Foto des toten Jungen Aylan Kurdi an einem türkischen Strand, ertrunken bei dem Versuch, Griechenland zu erreichen. Auch hier hängen reproduzierte Zeitungsseiten – darunter die taz –, die noch einmal die Frage stellen, was es bedeutete, dieses Bild im September 2015 zu veröffentlichen. Daneben Auszüge aus Bertholt Brechts „Kriegsfibel“, aktueller denn je: Am 1. September 1939, dem Morgen des Zweiten Weltkrieges, schnitt er erstmals einen Zeitungsartikel aus, kommentierte weitere mit Vierzeilern. Darunter auch das Bild einer jüdischen Mutter mit Kind, die auf der Flucht aus dem Mittelmeer gefischt wurden: „Und viele von uns sanken nah den Küsten / Nach langer Nacht beim ersten frühen Licht. / Sie kämen, sagten wir, wenn sie nur wüßten. / Denn daß sie wußten, wußten wir noch nicht.“
Gegenüber lacht die Familie Khalil von Hochzeits- und Urlaubsfotos, präsentiert in kleinen Holzrahmen im globalen Ikea-Style. Ein paar Räume später kleben die Bilder ihrer Flucht verloren und unstrukturiert an der Wand. Derzeit lebt die Familie in einem Klassenzimmer einer ehemaligen Grundschule in Leipzig. Für ein Fotografiefestival derart im Hier und Jetzt zu sein ist konsequent wie mutig. Wer sich darauf einlässt, kommt nicht umhin, sich immer wieder selbst zu verorten: Wo habe ich diese Bilder zum ersten Mal gesehen? Welches Ereignis habe ich intensiv verfolgt, welcher medialen Debatte mich entzogen?
Jan Wenzel und Anne König sind von Haus aus Buchmacher. Kluge, belesene Köpfe des Leipziger Verlags Spector, die sich der Komplexität dieser Welt stellen und ihre Umwelt, etwa auf Facebook, daran teilhaben lassen. Ihre Erfahrungen mit dem Buchraum haben sie für das Festival in den Ausstellungsraum übertragen, wie zwei überdimensionale Buchseiten zu Beginn der Ausstellung verdeutlichen: Für die Fotografie steht da, die so viel ermöglicht. Und Gegen die Fotografie, die Sicherheit raubt, zum Instrument des Terrors mutiert, zu manipulativen Zwecken missbraucht wird.
Neben aller Aktualität steht die Geschichte der Reportagefotografie: Mittels großer Displays wurden etwa Fotos der Kriegsreporter Robert Capa und Lee Miller im Leipziger Stadtraum installiert – an den Orten, wo sie 1945 von ihnen aufgenommen wurden. In einer anderen Halle des Spinnereigeländes sensibilisiert Ariella Azoulay für das Nichtfotografierte: Einen Text über die Massenvergewaltigung von Frauen im kriegszerstörten Berlin 1945 hat sie mit Archivfotos der zerbombten Stadt kombiniert. Wie viele dieser Bilder haben wir alle schon gesehen, auf wie vielen davon hat sich im Moment ihrer Entstehung Schreckliches ereignet, ist ein Fotograf zum Mittäter geworden, hätte Leid verhindern können?
Wer sich auf dieses Festival einlässt, wird bewegt. Noch bis zum Sonntag wird diese Bewegung aufgefangen von einem Filmprogramm, Führungen, Künstlergesprächen sowie von einem hervorragenden Katalog, der zu fassen versucht, was immer schwerer wird.
Bis 3. Juli, www.f-stop-leipzig.de, Katalog (spectorbooks) kostet 30 Euro
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