Elektronische Musik aus der Türkei: Lust auf Experimente

Zwei neue Alben zeigen, wie international türkische Musik war und ist: „Anthology of Turkish Experimental Music 1961-2014“ und Elektro Hafiz.

Ein Mann mit einem Instrument

Electro Hafiz aus Köln am Rhein Foto: Hafiz

Was eigentlich ist speziell türkisch an der „Anthology Of Turkish Experimental Music 1961–2014“? Sind es Soundfragmente, in denen man eine Mey zu hören glaubt, das in der türkischen Volksmusik häufig eingesetzte Holzblasinstrument? Oder sind es türkisch klingende Melodiepassagen? Was ist für Erdem Helvacıoğlu und Batur Sönmez, Herausgeber dieser Anthologie, in ihrer Sammlung ansonsten türkisch konnotiert?

Vielleicht der Umstand, dass es sich bei ihrer Auswahl um Produktionen aus der Türkei handelt und die ausgewählten Künstler aus der Türkei stammen? Avantgarde und experimentelle Musik ethnisch zu markieren provoziert Einspruch: Sie brachen schon immer nicht nur mit bestehenden Hörgewohnheiten und Musikstilen, sondern scherten sich auch nie sonderlich um ethnische Kulturen.

Noch ehe ich in das Album hörte, stolperte ich auch über die kompilierte Zeitspanne: Denn Helvacıoğlu und Sönmez tragen in ihrer Arbeit ein Who is Who von Avantgarde und Ambientmusik aus gleich vier Jahrzehnten zusammen. Allerdings stammen die meisten Titel des Albums aus den Jahren 2000 bis 2010, jener Phase also, in der elektronische Musik in der Türkei einen Boom erlebte. Ihr Zentrum: Istanbul.

Minimüzikhol und Otto

Dort eröffneten Danceclubs wie Minimüzikhol oder Otto. Labels wie Bosphorus Underground oder Bliss Point Recordings gingen an den Start. Im Jahr 2004 fand erstmals das Electronica Festival Istanbul statt, inzwischen hat es sich zu einem Megaevent mit mehreren Bühnen, vielen Konzerten und DJ-Sets entwickelt.

Die Anthologie, ein Doppelalbum, beginnt mit Bülent Arel (1919–1990), dem Pionier der elektronischen Avantgarde in der Türkei. Arel war bereits in den 1950er Jahren als Komponist tätig. Er gründete Orchester, leitete Chöre und gab Klavierkonzerte. Während seiner Schulzeit soll er bei sich zu Hause ein Atelier errichtet haben, in dem er kaputte Radios auseinandergenommen und wieder neu zusammengesetzt haben soll. Damals habe sein Interesse für das Elektronische begonnen, heißt es.

War in den USA zuhause: der Elektronikpionier Bülent Arel Foto: Arel

Ende der 1950er Jahre folgte Arel einer Einladung der Rockefeller Foundation, um seine künstlerische Arbeit am Columbia-Princeton Electronic Music Center der Universität Princeton fortzusetzen. Er blieb in den USA. Während seiner Lehrtätigkeit von 1961 bis 1970 etablierte Arel an der Yale University das Labor für elektronische Musik. Sein Album mit Daria Semegen, „Electronic Music For Dance“ (Finnadar Records, 1978), ist ein Meilenstein der experimentellen elektronischen Musik. Arel starb 1990 in New York.

Atlantic Records

Das Finale der ersten CD dieses Doppelalbums, „Prelude No. 17“, stammt dagegen von Ilhan Mimaroğlu, der oft in einem Atemzug mit Arel genannt wird. Mimaroğlu (1926–2012) studierte in den 1960er Jahren am Electronic Music Center der New Yorker Columbia Universität und war danach Produzent bei dem auf Jazz, Rhythm & Blues und Soul spezialisierten Label Atlantic. Dort arbeitete er unter anderem mit den Jazzmusikern Freddie Hubbard und Charles Mingus zusammen. Atlantic Records wurde 1947 von Herb Abramson und den Brüdern Ahmet und Nesuhi Ertegün gegründet. Ihr Vater war türkischer Botschafter in den USA.

Den ersten Abschnitt der Anthologie mit Arel zu beginnen und Mimaroğlu zu beenden, ist eine naheliegende konzeptionelle Idee, schließlich gelten beide als Wegbereiter der experimentellen elektronischen Musik in der Türkei. Sie dienen den Herausgebern als konzeptionelle Klammer.

Verschiedene Künstler: „An Anthology of Turkish Experimental Music, 1961-2014“ (Sub Rosa/Al!ive)

Electro Hafiz: „Electro Hafiz“ (Guerssen Records/Import)

Dazwischen finden sich mehr als zehn Künstler, die ein breites Spektrum experimenteller elektronischer Musik dokumentieren. Während Cenk Ergün in „Forge“ (2008) akustische Instrumente sampelt und elektronisch verfremdet, überführen Mehmet Can Özer in „Plug-Out: Balıklar II“ (2007) und Sair Sinan Kestelli in „Earthwork“ (2007) disharmonische Naturklänge und Alltagsgeräusche zu neuen dynamischen Formen.

Dass die Herausgeber jeweils Eigenkompositionen ein­geschmuggelt haben, lässt sich gut begründen. Schließlich sind sie beide wichtige Figuren der Szene, Batur Sönmez als anerkannter Noise-Musiker und Erdem Helvacıoğlu mit seinen Elektroakustikproduktionen. Ihre auf dem Album vertretenen Künstlerkollegen Nilüfer Ormanlı und Mehmet Can Özer gelten als Protagonisten der Boomjahre von elektronischer Avantgarde in der Türkei.

Plötzlich wird es politisch

Um nochmals auf das Türkische in dieser Anthologie zu kommen: Es ist mit dem Internationalen verknüpft. Viele Titel wurden im Ausland produziert und publiziert. Dass ihre Musik in Europa und in den USA größere Beachtung findet als in der Türkei selbst, trifft auch auf die Generation nach Arel und Mimaroğlu zu. Auch die Auswahl der Stücke auf der zweiten CD dieser Anthologie bildet ein breites Spektrum an Klangexperimenten ab, wobei das formal Experimentelle weniger dominant ist.

Und plötzlich tauchen in dieser Anthologie gesellschaftspolitische Statements auf. In „Democracy Lessons“ sampelt Asaf Zeki Yüksel Demokratiedefinitionen von Recep Tayyip Erdoğan und untermalt sie mit elektronischen Beats und Klängen. Er kreiert einen fast tanzbaren Sound, der Erdoğans belehrenden Politikersprech dechiffriert und entblößt. Bei „I want to be a Suicide Bomber“ denken viele wahrscheinlich an islamistischen Terror und seine Verherrlichung.

Aber darum geht es Sıfır nicht: Auf dieser Compilation findet man eine Kurzversion einer audiovisuellen Performance, die der Musiker 2011 in Istanbul auf die Bühne gebracht hat. Dieser Track gehört zu den Highlights dieser Anthologie sowie „Andalog“ von 2/5BZ, einer der wenigen Titel aus den 1990er Jahren, in dem die anatolische Saz und Gesang im Arrangement mit elek­tro­nischem Sound einen neuen Klang­ausdruck bekommen.

Fairiz Derin Bulut: Kultband in Istanbul

Genau das ist auch dem 39-jährigen Künstler Elektro Hafız in seinem gleichnamigen Album exzellent gelungen, das man gut parallel zu der Anthologie hören kann. Hinter dem Namen Elektro Hafız steckt Kerem Atay, Sänger und Gitarrist von Fairuz Derin Bulut, einer Istanbuler Kultband, die Ende der 1990er und in den Nullerjahren mit Arabesk-Covern wie „Seni Yakacaklar“ von Ibrahim Tatlıses diese musikalisch auf eine neue Stufe hoben und urbanen Partygenerationen zugänglich machten.

Die Band überschritt furchtlos musikalische Grenzen und erhielt bald das Etikett „Musik der Verrückten“. Dann gelang Kerem Atay vor einigen Jahren der Absprung aus der Türkei, was sich wegen der politischen Situation derzeit viele Künstler wünschen. Seitdem lebt Elektro Hafız in Köln. Sein Album schafft es sofort, gute Laune einzuhauchen: Hallo, wo geht’s hier zur Tanzfläche, jagt es mir gleich beim ersten Song „Hayat Bu Malum“ durch den Kopf. Das Album klingt angenehm unkonventionell, mal wie tolle anatolische Hochzeitsmusik, dann wie Psychedelic Pop mit anatolischer Färbung oder eben so, als hätte sich die britische Popband Cornershop neu formiert.

Postmigrantischer Sound

Elektro Hafiz ignoriert musikalische Schubladen und Stile so konsequent, dass ich zwischendurch nicht sicher bin, ob es sein könnte, dass ich zu Elektropopklängen einen Marktverkäufer höre, der mir „Ein Kilo Tomaten für 2 Eurooooo“ andrehen will. Könnte sein, dass postmigrantischer Sound in Almanya einfach gut klingt. Hauptdarsteller des Albums ist die elektronische Saz, die bei aller musikalischen Diversität Elektro Hafiz dann doch einen eigenständigen Sound verleiht.

Orhan Gencebay, einer der bedeutendsten Musiker der Türkei und King of Arabesk, setzte schon in den 1970er Jahren die anatolische Langhalslaute elektronisch ein. Das hat viele inspiriert, auch die in Deutschland bekannte Band Baba Zula und eben Elektro Hafiz. Er zelebriert die Elektrosaz, unterlegt sie mit Dubbässen und Reggaerhythmen, reichert sie mit Beats an oder konfrontiert sie mit einer verzerrten E-Gitarre.

So wechseln Sounds genauso wie Sprachen, in denen gesungen wird. Es gibt nur ein Problem: Nach etwas mehr als einer halben Stunde ist die Elektro-Hafız-Party vorbei. Verdammt schade, eigentlich.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.