: Im Hochzeitskleid zum Jubiläum
Wohnen I Mehr Kiez geht nicht: Seit 25 Jahren leben in der Neuköllner Weserstraße Menschen mit geistiger Behinderung
von Manuela Heim
„Das zieh ich an“, sagt Regina und schwenkt ihr Hochzeitskleid. Oder doch den silbergrauen Rock? „Axel, biste dabei“, fragt sie mit schnarrender Stimme. „Ich bin dabei“, sagt Erzieher Axel Schürmann. Und Regina zählt weiter: Die Ruth kommt und der Dieter; Bärbel leider nicht. Bernd wird das schicke Hemd anziehen. „Stimmt’s, Bernd?“ Der Tommi ist gestorben. „Der hatte doch was mit dem Magen.“ Nein, mit dem Herzen, sagt Axel, mit Tränen in den Augen, er kannte Tommi von Anfang an. Bei der Beerdigung waren sie fast alle dabei. „Die Bilder von ihm bleiben aber hängen“, sagt Regina. Und dass sie in der Werkstatt neue Stühle haben. Bernd kocht am liebsten Reis, sagt er. Die Marina ist im Krankenhaus. Und Sabine inzwischen im Pflegeheim. „Aber sie kommt zur Feier oder, Axel?“
In diesen Tagen hat das Neuköllner Mosaik-Wohnheim 25-jährigen Geburtstag gefeiert. Vor einem Vierteljahrhundert war es eines der ersten in Berlin, die Menschen mit geistiger Behinderung ein weitgehend selbstbestimmtes Leben ermöglichten. Ein Leben mit selbst eingerichteten Zimmern, in kleinen Wohngruppen, mit den immer gleichen Betreuern, mit Bildung lebenslang. Ein Leben jenseits der sogenannten Komplexeinrichtungen, die hundert und mehr Bewohner versorgen.
Angelika Dömling ist Mitarbeiterin der ersten Stunde. Über eine ABM-Maßnahme kam die Sozialpädagogin zu dem Job als Leiterin. 1988 hieß es bei Mosaik, bislang Betreiber von Behindertenwerkstätten: „Macht mal Wohnplätze.“ Viele der MitarbeiterInnen in den Werkstätten wohnten damals noch bei ihren Eltern, selbst wenn die längst nicht mehr konnten. „Die Mama schläft so lange“, habe einer mal aus dem Fenster gerufen. Da war die Mutter schon ein paar Tage tot. Nicht selten mussten junge Erwachsene dann ins Altersheim oder in die Psychiatrie, denn Wohnheime gab es in den 80ern kaum im engen Westberlin. „Unerträglich“, sagt Dömling.
Doch das geringe Platzangebot hatte auch Vorteile. Während anderswo noch die angeblich wirtschaftlicheren Großwohnheime zur Selbstverständlichkeit gehörten, genehmigten die Behörden in Westberlin auch kleine Einrichtungen. So kam Mosaik zu einer alten Fabrik in Neukölln. „Erst mal ein Loch, nach der Sanierung ein Schmuckstück“, erinnert sich Dömling. Mit Garten und großzügigen Wohnbereichen auf drei Etagen, außerdem vier kleinen Wohnungen. Im Mai 1991 zogen die ersten Bewohner ein, sieben von ihnen leben noch immer hier.
Im Schatten der Sonnenallee, geduckt hinter einem gewaltigen Vorderhaus, nebenan ein kleiner Kinderspielplatz – hier liegt das Wohnheim. Insgesamt wohnen 26 Menschen im Hinterhof der Weserstraße. Der Jüngste ist 19, die Älteste 65. Läden, Biosupermarkt, Arztpraxen und Therapeuten sind in Laufnähe, der Edeka gleich schräg gegenüber.
Im betreuten Einzelwohnen leben laut Senatssozialverwaltung aktuell rund 4.000 Menschen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung (eine getrennte Aufstellung gibt es hier nicht). Dieser Bereich wächst am meisten, seit 2008 sind rund 1.600 Plätze dazugekommen.
In Wohngemeinschaften wohnen rund 1.600 Menschen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung, 500 mehr als vor acht Jahren.
Die Zahl der in Behindertenwohnheimen lebenden Menschen steigt kaum noch. 3.300 sind es aktuell, 183 mehr als 2008. Es gibt kleine Einrichtungen wie das Mosaik-Wohnheim in der Weserstraße, aber auch größere mit knapp 100 Plätzen. Viele haben inzwischen auch Außenwohngruppen für selbstständigere BewohnerInnen. (mah)
„Wir hatten einen Bewohner, der ging immer gern in die Schultheiss-Kneipe an der Ecke, da fiel der gar nicht auf“, erzählt Dömling. In der bunten Mischung Neuköllns sei das anders als etwa in Charlottenburg, wo Anwohner gegen ähnliche Einrichtungen Sturm liefen, weil sie die Abwertung ihrer Wohngegend fürchteten.
2006 lief der Mietvertrag der Wohnstätte ab. Neukölln war da schon im Kommen, und die Vermieterin, eine Beteiligungsgesellschaft, wollte plötzlich 166 Prozent mehr Miete. Die Insolvenz der Gesellschaft rettete das Heim. Bei einer Versteigerung bekam Mosaik den Zuschlag, nun sieht man der Gentrifizierung gelassen entgegen.
Ein Tattooladen ist inzwischen ins Vorderhaus gezogen, nebenan hängt eine Anzeige für freien Platz im Co-Working-Space. Die Eckkneipe heißt jetzt „Ä“, ein junger Mann mit Vollbart steht hinter dem Tresen; der Bewohner geht da nicht mehr hin. Aber ansonsten ist der Kiez noch immer auch der der Mosaik-Bewohner. „Sie können hier sehr viel selbstständiger sein, weil alles so nah liegt“, sagt Dömling.
So geht es jeden Dienstag zum Kegeln ein paar Straßen weiter, auch für Regina und Bernd. Sie gewinnt immer, genau drei Mal, erzählt Regina. Mittwochs geht sie in die Apotheke, Sonntag früh mit Bernd im Kiez spazieren. Jetzt nach der Arbeit in der Werkstatt, schauen die beiden fern.
Bernd hat ihre zwei Räume mit buntem Geschenkpapier tapeziert. Vorm Fenster wollte Regina Blumen, an den Wänden hängen Fotos und Weihnachtsdeko. Das Ehebett haben sich die beiden zusammengespart. Darüber hängt das Hochzeitsbild. Vor zwei Jahren wurden sie hier im Kiez getraut, erst im Standesamt, dann in der Martin-Luther-Kirche um die Ecke. In Weiß, das war Regina wichtig. Mit der Stola um die Schultern.
Ein Vierteljahrhundert wohnen Bernd und Regina inzwischen hier, sie ist 65 geworden, er 50. „Und wir bleiben hier“, sagt Regina. Bernd nickt. Ein ganzes Leben, ein Zuhause.
Zum Jubiläumsfest hat Regina den silbergrauen Rock angezogen und Bernd das schicke Hemd. Sabine war dann auch da.
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