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Drei Tage, an denen kein Gesetz waltete

Dokumentarfilm Das Ende der Sowjetunion erzählen: „The Event“ von Sergei Loznitsa erinnert an den sanften Aufstand der Russen von 1991

Leningrad, 19. August 1991, 16 Uhr. Eine Menschentraube versammelt sich auf der Straße. Ein Zufallskollektiv, das live – so suggeriert es die subtile Bild-Ton-Montage – die neueste Radiomeldung verfolgt. Gemäß Artikel 127.3 der sowjetischen Verfassung wird der Ausnahmezustand verhängt, „aufgrund der Forderung breiter Massen der Bevölkerung zur Vermeidung des Abrutschens der Gesellschaft in eine nationale Katastrophe“.

Genitiv-Ketten, die erst einmal entschlüsselt werden müssen. Alle hören zu, ungläubig, verunsichert, aber angesichts der Tragweite dieser Durchsage dann doch erstaunlich gelassen. Der Klartext nämlich lautet: Putsch. Einen Tag bevor Gorbatschow den neuen Unionsvertrag unterzeichnen will, tritt das selbsternannte „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“ auf den Plan und versucht den Vorhang, noch bevor er aufgeht, wieder zuzuziehen.

Danach schaltet Sergei Loznitsas neuester Dokumentarfilm „The Event“ erst einmal auf Schwarzbild und – Tschaikowskis „Schwanensee“. So hat es auch das Sowjet-TV immer gemacht, wenn Dinge passierten, die nicht hätten passieren sollen, Bilder zu sehen gewesen wären, die nicht gesehen werden sollten. Und so lief auch im August 91, als Panzer durch Moskau rollten, im Fernsehen Ballett.

Die eigentliche Ironie hinter diesem Verweis auf die medialen Praktiken der UdSSR besteht darin, dass Loznitsa eben nicht sinnfreie Pirouetten-Idylle (ein reines Test-Bild quasi) über die Musik legt, sondern hochaufschlussreiches Archivmaterial, das für uns als Zuschauer heute zu einem Testbild der anderen Art wird: Was ist ein historisches Ereignis? Lässt es sich abbilden? Erschließen? Als solches überhaupt erkennen?

Oder eine Ebene drunter: Was waren das für drei Tage, an denen kein Gesetz waltete? Wie organisierte sich der demos, dem per Zufall die Macht in den Schoß fiel? Denn in Leningrad wurden die Befehle der Putschisten nicht ausgeführt; es gab keine Truppen, keine Schüsse, nur „das Volk“. Sie zeigt der Film. Herumstehend, diskutierend, Behelfsbarrikaden bauend und Gedichte rezitierend, argumentativ und rhetorisch unterstützt von der lokalen Führung, dem frisch gewählten Bürgermeister Anatoli Sobtschak etwa mit dem kleinen „Wolodja“ im Schlepptau, heute (welch Ironie) bekannt als Mister Putin.

Drei Tage zivile Öffentlichkeit, die Leninbilder hinterm Fenster verschwinden lässt und dafür Banner hochhält, mit aus heutiger Sicht überraschenden Losungen: „Nein zum Faschismus!“, „Tod der Junta!“. Moment mal … hatten wir das nicht gerade … nur mit umgekehrten Vorzeichen?

Ganz bewusst stellt Loznitsa dem blutigen Aufstand in Kiew, den er 2014 in „Maidan“ dokumentiert hat, nun den sanften Aufstand der Russen von vor 25 Jahren gegenüber. Er macht damit auf ein „Ereignis“ aufmerksam, das im neuen Russland angesichts zahlreicher anderer Vaterlands-Gedenktage unterzugehen scheint. Retroaktiv vergessen wird.

„The Event“ bereichert unser reduziertes „Jelzin auf dem Panzer“-Bild-Gedächtnis vom Augustputsch mit First-hand Aufzeichnungen der Kameraleute des Lendok-Filmstudios, denen im Unterschied zu ihren Moskauer Kollegen das Drehen auf 35 mm gestattet war. Das Footage landete im Archiv, wo es 25 Jahre weitgehend unberührt lag, bis Loznitsa es gemeinsam mit dem Archivar ausgrub.

Wie in „Blokada“ (2005) vertonte er das stumme Chronikmaterial, hier jedoch nicht mit erfundenen, sondern (in Radioarchiven) gefundenen Tönen. So wird dann auch – besonders während der riesigen Massenversammlung am Palastplatz mit wichtigen Zeitzeugen – eine mediale Stimmenvielfalt erfahrbar, die es zurzeit nicht gibt. 1991 waren die Menschen mit ihren Transistorradios unterwegs. Und sie hörten, auch, Radio Svoboda. Barbara Wurm

„The Event“. Regie: Sergei Loznitsa. Niederlande/Belgien 2015, 74 Min.

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