Seit meiner Bekanntschaft mit den Stadtrand-Mücken sehe ich die Welt mit anderen Augen
: Die Verwandlung

Foto: privat

AM RAND

Klaus Irler

Es war ein lauer Frühsommerabend, der Duft des Rhododendron lag in der Luft, am Horizont ein letztes Licht, die Sonne wollte diesen herrlichen Tag nicht beenden. Ich saß auf meiner Terrasse am Stadtrand, barfuß, ein gutes Essen im Bauch und ein Lob auf den Lippen. „Hamburg“, sagte ich mir, „kann auch anders.“

Am nächsten Tag juckte mir der Fuß. Ich kratzte. Der Fuß juckte weiter, es waren Mückenstiche, es wurde immer schlimmer und ich kratzte immer wilder. Der Fuß juckte den ganzen Tag und aus den zwei, drei, vier Mückenstichen wurden elf, zwölf, dreizehn.

Immer mehr Mückenstich-Hügel wuchsen aus meiner Haut. Irgendwann hörte ich auf, zu zählen und dachte an Los Angeles. „Los Angeles ist ein Siedlungsbrei“, sagte einmal ein Stadtforscher zu mir. „Eine Ansammlung von Gemeinden, die miteinander verwachsen zu einer Mega-Metropole.“ Meine Füße waren genau das: Ein Siedlungsbrei kleiner Mückenstich-Gemeinden, die sich langsam zu etwas Großem verbanden.

Anderntags hatte ich keine Füße mehr, sondern zwei Mückenstich-Metropolen. Der Speichel, den die Mücken in mich reingepumpt hatten, verteilte sich über meinen Blutkreislauf im ganzen Körper. Ich ging auf die Straße und merkte, dass etwas anders war als sonst. Ich sah die Welt nicht mehr in einem scharfen Bild vor mir, sondern ich sah kleine Bilder. Immer mehr kleine Bilder, die mir auch zeigten, was seitlich und oberhalb von mir geschah. Ich betrachtete mich im Spiegel und hatte nicht mehr zwei große sondern viele kleine Augen, angeordnet in der Form einer Halbkugel.

Ich setzte mich auf die Terrasse und schaute in die Welt. Es wurde dunkel und auf einmal laut. Ich hörte die Mückenweibchen heransummen, tausende, alle durstig, alle paarungsbereit, aber sie beachteten mich nicht. Für sie war ich weder ein Mensch noch ein Mückenmännchen. Ich war eine von ihnen geworden. Und ich bekam auch Durst.

Ich ging hinaus auf die Straße und sah dort keine Frauen, Männer und Kinder, sondern pulsierende Wesen in Duftwolken. Die Duftwolken waren unterschiedlich groß und entwickelten eine enorme Anziehungskraft. Ich wollte losrennen, mich hineinwerfen, anbeißen und konnte mich nur mit letzter Kraft zurückhalten. „Du darfst niemanden beißen“, dachte ich. „Die sperren Dich ein.“

Ich ging in die Eisdiele, vielleicht würde ein Eiskaffee helfen. Langsam wurde mein Kopf klarer. Für die Mückenattacke gab es eine Erklärung: So, wie man Rom auf sieben Hügeln erbaut hat, wurde Niendorf-Nord auf drei Mooren gebaut. Die Moore wurden nach dem Zweiten Weltkrieg abgetorft, um Bauland zu schaffen. Dabei muss gepfuscht worden sein. Nun vermehren sich die Mücken in alten Entwässerungskanälen und ziehen abends aus, sich zu rächen.

Als mir der Kellner den Kaffee reichte, landete eine Mücke auf seinem Arm. Der Kellner tötete sie mit einem gewaltigen Schlag. „Du musst schnell sein“, sagte er zu mir. „Sonst bist Du verloren.“