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Noch nicht alles im Arsch

FESTIVAL Das „Projeto Brasil“ präsentiert auf Kampnagel aktuelle Kunst aus Brasilien. Zur Eröffnung rufen die Künstler zum Olympia-Boykott auf. Aber auch ihre Kunst selbst ist politisches Statement

Hommage an Schönheit und Freiheit fernab von industrieller Porno-Ästhetik: Performance der Macaquinhos Foto: Macaquinhos

von Robert Matthies

Sechs nackte Ärsche strecken sich einem schon vorm Kampnagel-Eingang auf einem großen Banner entgegen. Darauf steht die Frage: „Do you know there is a coup in Brazil?“ – „Weißt du, dass in Brasilien ein Putsch stattfindet?“ – und das Hashtag „#BoycottOlympics“.

„Uns war wichtig, dass es zur Eröffnung ein Statement zur aktuellen politischen Situation zwei Monate vor den Olympischen Spielen in Brasilien gibt“, erklärt der Künstler Daniel Lie aus São Paulo die Aktion zum Beginn des zehntägigen Festivals „Projeto Brasil“. Seit Mittwoch präsentiert es als Gemeinschaftsprojekt zugleich im Hebbel am Ufer in Berlin, im Hellerau in Dresden, im Tanzhaus NRW in Düsseldorf, im Mousonturm in Frankfurt/ Main und auf Kampnagel aktuelle Kunst aus Brasilien.

Gemeinsam mit dem Künstlerkollektiv Macaquinhos hat Daniel Lie das Protestbanner noch schnell improvisiert. „Was gerade passiert, ist ein Staatsstreich der alten Eliten“, sagt er sichtlich niedergeschlagen. „Es ist eine extrem instabile Situation, die Gesellschaft ist tief gespalten, die Demokratie ist in Gefahr. In einer solchen Situation kann man keine Olympischen Spiele veranstalten.“

Vor drei Wochen wurde Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff wegen Verstößen bei der Führung der Staatsfinanzen vom Bundessenat für sechs Monate suspendiert, ein Amtsenthebungsverfahren gegen sie ist eingeleitet. Die erste Amtshandlung von Interimspräsident Michel Temer: die Abschaffung der Ministerien für Frauen, Minderheiten und Kultur. Erst die lautstarke Besetzung des Kulturministeriums durch Künstler und Demonstranten, darunter einflussreiche Stimmen wie Caetano Veloso, Chico Buarque und Gilberto Gil, haben Temer gezwungen, die Abschaffung wieder zurückzunehmen.

Auch die Choreografin Lia Rodrigues, die in Rio de Janeiro ausschließlich mit Tänzerinnen und Tänzern aus den Favelas arbeitet und mit ihrem aktuellen Stück „For The Sky Not To Fall“ das Festival eröffnete, ließ es sich nicht nehmen, nach der Performance auf die angespannte Situation hinzuweisen und zum Kampf um Menschenrechte und für Demokratie aufzurufen.

Politische Statements sind dabei schon viele der gezeigten Arbeiten selbst, wenn auch erst auf den zweiten Blick. „Podrera“ – „Verfall“ – heißt Daniel Lies raumgreifende Installation in einer der Hallen. Einen Ring aus Hanfdecken hat er an die Decke gehängt, darin und auf dem Boden Dreck vom Kampnagelgelände vermischt mit Pferdemist und Leinsamen. Dazwischen und um zwei Heuballen herum sind lange Tücher aus Öko-Baumwolle gespannt, in der Mitte steht ein Baumstumpf voller Blumensträuße, darunter verfaulen langsam Bananen.

„Es ist ein Prozess, den ich nicht mehr kontrollieren kann, wenn ich mit der Installation fertig bin“, erklärt Lie. Ob die Blumen verfaulen oder austrocknen, ob jemand eine der Bananen isst, ob die Leinsamen sprießen werden, ob aus dem Verfall ein Neuanfang wird, all das überlässt er dem Zufall.

Politisch sind viele der gezeigten Arbeiten, wenn auch erst auf den zweiten Blick

Dass es Kunst ist, für die man keinerlei Vorkenntnisse braucht, um sie für sich zu verstehen, ist dem 28-Jährigen wichtig. „Meine Vorfahren mütterlicherseits kommen aus dem Nordosten Brasiliens und waren sehr arm“, erklärt er. „Ich bin der Erste aus der Familie, der eine richtige Ausbildung hat und mehrere Sprachen spricht.“

Dabei ist Lies kybernetische Pflanzenkunst zugleich tief verwurzelt im Tropicalismo, jener kultur- und sozialrevolutionären Bewegung, die vor allem seit den 1960ern zur kulturellen Antropophagie aufruft: zur Einverleibung widersprüchlicher europäischer Stilrichtungen, um aus deren Elementen eine eigene selbstbewusste „tropische“ Kultur zu entwickeln: „Statt das Fremde wegzuschieben, das Fremde fressen“, wie es der brasilianische Schriftsteller Oswald de Andrade 1928 in seinem Manifest formulierte.

Beim Kollektiv Macaquinhos – „Äffchen“ – ist es ähnlich. Im Zentrum ihrer Performance, die in São Paulo Ende vergangenen Jahres für einen veritab­len Skandal gesorgt hat, steht der Anus. Die neun Performerinnen und Performer ziehen sich aus und zeigen eine einstündige Choreografie, in der sie immerzu auf das Po-Loch der anderen fixiert bleiben: untersuchen es mit Blicken, mit der Zunge, mit dem Finger, bilden so ständig durch den Raum und dicht am Publikum vorbeiziehende Kreise aus nackten Körpern, nur verbunden über den Anus. Was auf den ersten Blick wie bloße Provokation wirken mag, hat einen ernst gemeint Hintergrund. Zum einen geht es um das „Kontrasexuelle Manifest“ des spanischen Queer-Theoretikers Paul B. Preciado, das den Anus zum Ausgangspunkt einer nicht-heterosexuellen Dekonstruktion sexueller Praktiken und der mit ihnen zusammenhängenden Gesellschaftsordnung erklärt.

Zum anderen erklären die Macaquinhos den Anus zur physischen Metapher für den globalen Süden, den der normative Norden – der Kopf – durch Kolonialismus, Kapitalismus und Patriarchat delegitimiert. Und die Anus-Performance zum Ausgangspunkt einer zutiefst demokratischen Kunstkritik: Noch ist nicht alles im Arsch.

„Projeto Brasil. Tropicalypse Now!“: bis Sa, 11. Juni, Kampnagel

www.kampnagel.de

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