: Suche im Sand der Erinnerung
Alleinsein Im Roman „Austerlitz“ von W. G. Sebald sucht der Protagonist nach den Spuren seiner im Holocaust ermordeten Eltern. Das Staatstheater Braunschweig hat den Stoff auf die Bühne gebracht
Mit der Lupe sucht Jacques Austerlitz im Sand nach seiner eigenen Vergangenheit, gräbt sich immer tiefer in die Recherche über seine eigene Kindheit. Er verfolgt die Spuren seiner vermissten Eltern, die er zuletzt als Vierjähriger gesehen hat, als er dem Abtransport nach Theresienstadt nur knapp entkommen war. Austerlitz ist die Hauptfigur in W. G. Sebalds gleichnamigen Roman von 2001. Nun hat das Braunschweiger Staatstheater ihn für die Bühne adaptiert.
Tobias Beyer spielt dabei den namenlosen Ich-Erzähler sowie Austerlitz selbst. Dass der Regisseur Florian Hertweck diesen Prosatext als Monolog inszeniert, erscheint konsequent, obwohl der Roman im Grunde eine zwar über Jahrzehnte unterbrochene, jedoch ausschließlich in Dialogen erzählte Biographie des Mannes ist, der auch bei einem zufälligen Wiedersehen nach zwanzig Jahren auf jeglichen Smalltalk mit dem Ich-Erzähler verzichtet, um diesem von seiner Selbstaufklärung zu berichten, die er viel zu lange unbewusst, aber doch hinauszögerte und erst im Ruhestand vorantreibt, als eine psychische Krankheit ihn immer stärker zu beeinträchtigen beginnt.
Diese Konsequenz im Monologischen begründet sich zum einen in den vielen Erzählebenen, etwa „sagte Vera, sagte Austerlitz“. Aber auch in den undankbaren Schachtelsätzen Sebalds, die sich kunstvoll über bis zu neun Seiten hinstrecken, um die Verworrenheit des Erzählten und Erinnerten und vor allem des Verschwindens und Vergessens begreiflich zu machen.
Trotzige Unmittelbarkeit
Der immer weiter um sich greifenden Unsitte, selbst die umfassendste Gegenwartsprosa für die Theaterbühne zu adaptieren, setzt diese Inszenierung geradezu trotzig eine Unmittelbarkeit entgegen, die „Austerlitz“, einem der bislang bedeutendsten Romane des 21. Jahrhunderts, nicht nur gerecht wird, sondern die ihm in ihrer Einfachheit auf der winzigen, vollständig mit grobem Sand bedeckten Bühne, eine räumliche Tiefe gibt.
„Wie Erinnern sich Eichhörnchen, wo sie ihre Vorräte vergraben haben, wenn alles weiß ist?“, fragt sich Austerlitz als er seiner Vergangenheit in Theresienstadt auf die Spur kommt, wo seine Mutter ermordet wurde: „Was wissen wir überhaupt? Wie geht Erinnern?“, schreit er und wirft mit Sand um sich.
Austerlitz ist auch eine exemplarische Erzählung von marginalisierter Männlichkeit, die anhand eines persönlichen Schicksals die Leiden der von den Verbrechen der Nationalsozialisten Traumatisierten sichtbar macht, die wie hier mehrere Generationen überdauern.
Austerlitz selbst wuchs bei einem streng calvinistischen Ehepaar in Wales auf, fern seiner eigenen Heimat und Sprache. Als Jugendlicher erfährt er seinen richtigen Namen, doch erst im Ruhestand beginnt er, seinen wenigen Erinnerungen nachzuspüren, ohne jedoch seinen jüdischen Eltern oder seiner eigenen Identität wirklich nahezukommen; sie rinnt ihm durch die Finger wie Sand.
Dass die Zeit nicht verginge, noch nie vergangen sei, sei sein tiefster Wunsch, sagt Austerlitz, sagt der Ich-Erzähler, sagt Tobias Beyer mit seiner eindringlichen Stimme, doch das Grab, das er mithilfe eines Klappspatens aushebt, erzählt eine andere Geschichte. Eine Geschichte des Ausgelöschtseins, des Alleinseins, des An-den-Rand-gedrängt-Seins. Und so schüttet er das Loch wieder zu.
Erfolglos und erschöpft sinkt Tobias Beyer zu Boden, Schweißtropfen auf der Stirn, Sandkörner im Gesicht. Man muss sich Austerlitz als einen gescheiterten Mann vorstellen.Kornelius Friz
nächste Vorstellungen: heute, 21. und 23. Juni, Staatstheater Braunschweig
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