piwik no script img

Vertikal und horizontal

BILDHAUEREI Urphänomene des Skulpturalen: Kai Schiemenz stellt in Wolfsburg aus

Vielleicht ist man zu Beginn etwas enttäuscht, wenn man diese Ausstellung besucht. Denn das Markenzeichen des Bildhauers Kai Schiemenz waren über mehr als zehn Jahre lang große, begeh- und nutzbare Zwitterwesen aus Architektur und Skulptur. Sie sollten als Raummodelle im Maßstab 1:1 dem Rezipienten, besser: Gruppen davon eine Bühne bieten für eigenes Agieren im Raum. Ihr formaler Charme entsprang einer kunstfertig-ruppigen Improvisation aus Holztragwerk, MDF-Platten und Dachlatten. Mitunter war es erstaunlich, dass diese Konstrukte behördlichen Segen erhielten, besonders wenn sie als Freiluftinstallation auftraten.

Davon sieht man also in Wolfsburg nichts, denn dieser „Theatralisierung des öffentlichen Raumes“, so Schiemenz selbst, hat er vor vier Jahren entsagt. Seitdem konzentriert der gebürtige Erfurter, Jahrgang 1966, sich auf Urphänomene des Skulpturalen: Volumen, Bildhaftigkeit, Materie und Oberfläche. Die Skulptur baue eine stärkere Distanz zum Betrachter auf, sie sei „gewalttätiger“, sagt Schiemenz, selbst bei geringer Dimension.

In der Ausstellung entfaltet sich nun über drei Säle ein Parcours der Vertikalen, aus Standbildern sehr verschiedener Größe und Materialität. Sie alle spielen mit dem kultischen Akt des Aufrichtens eines Objektes und der damit vollzogenen Aufladung zu einem Bedeutungsträger. Zu dieser Wirkmacht treten Masse und Material, mal affirmativ, mal konterkarierend.

Im mittleren, dem größten Raum der Städtischen Galerie steht nun rund ein Dutzend kleinformatiger, beinahe an Stelen erinnernde Vertikalen, monolithisch aus farbintensiven Gläsern gegossen oder als Hohlkörper in glasierter Baukeramik gebrannt. Sie sind nicht frei von Konnotationen formaler wie geistesgeschichtlicher Natur: Das Vermächtnis einer visionären Moderne um Menschen wie Bruno Taut, Paul Scheerbart oder Herrmann Finsterlin ist unübersehbar, hier in suggestiver Modellgröße verdichtet. Ihre gemeinsame Basis finden diese Artefakte in einer Art dreidimensionalem Gartenparterre aus Spanplatten-Ebenen; es kann erklommen und durchschritten werden, man soll darauf sitzen oder sogar liegen.

Eher imaginär denn visuell erlebbar wird so die Beziehung zu dem in Teilen formalen Wolfsburger Schlossgarten hergestellt, der allerdings etliche Stockwerke tiefer liegt. Aber es klingt auch die archaische Bedeutungsebene des Markierens und Absteckens eines ausgesuchten Ortes durch die Setzung vertikaler Zeichen an, die Bildung eines individuellen Raumes durch eine minimale Geste der Ausgrenzung.

Wem das allzu akademisch daherkommt – vielleicht auch zu ästhetizistisch –, der mag an den beiden anderen Räumen Gefallen finden: Die hat Schiemenz mit sehr kleinen wie auch sehr großen Objekten aus pastellfarbenem Styrodur bestückt, einem handelsüblichen Dämmstoffmaterial. Mit diesem unter Künstlern oder auch Architekten durchaus geschätzten Material übersetzt er die Spontaneität und Leichtigkeit der Malerei in dreidimensionale Objekte, spielt eine flüchtige Schnelligkeit gegen die langwierigen Prozesse der klassischen Bildnerei aus. Und so wie früher in seinen raumgreifenden Großskulpturen zerfließen wiederum die Grenzen zwischen Modellcharakter und Realisat. Alles wird zum Experiment der Selbstvergewisserung im Raum.

Ab Samstag, 11. Juni, ist Kai Schiemenz auch beim diesjährigen Lichtparcours in Braunschweig dabei. Die topografischen Relikte eines barocken Bollwerks besetzt er dann mit pulsierend leuchtenden Barren – diesmal horizontal lagernd.

Bettina Maria Brosowsky

Kai Schiemenz. Große und Kleine – Pistazie/Malve/Koralle: bis 10. Dezember 2016, Städtische Galerie Wolfsburg

Lichtparcours: 11. Juni bis 22 September. Internet: www.braunschweig.de/lp16

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen