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Eine verrückte Nation!

Dokumentation Lutz Dammbecks „Overgames“ nimmt die US-amerikanische Re-Education-Policy der Nachkriegszeit ins Visier

von Silvia Hallensleben

Der Filmemacher Lutz Dammbeck ist ein Nebenbei-Fernsehgucker. Aufmerksam ist er dabei aber auch. Und so stolperte er bei einer TV-Stippvisite 2004 in eine Talkshow, wo eine illustre Runde aus elf Schau-Leuten von Biolek bis Jauch (darunter übrigens mit Ulla Kock am Brink nur eine Frau) meta-medial das Showwesen im deutschen Fernsehen besprach. Dabei erklärte Joachim Fuchsberger auf eine Frage von Moderatorin Anne Will fast nebenbei eine kleine Sensation: Die Spiele nämlich für die US-Vorlage („Beat the Clock“) seiner ersten Show „Nur nicht nervös werden“ 1960 in der ARD seien in der dortigen Psychiatrie entwickelt worden, um die Patienten „aus ihrer Verklemmung, ihrer Erstarrung herauszuholen“. Auf Rudi Carrells humorige Nachfrage, wie viele Patienten denn bei seiner Sendung zugeschaut hätten, antwortet er dann: „Eine Nation! Eine verrückte Nation! Eine psychisch gestörte Nation.“

Das mit der Nation ist natürlich Quatsch, schließlich besaß damals erst gerade mal jeder zehnte westdeutsche Haushalt einen Fernseher. Merkwürdig dennoch, dass Blackys Aussagen bis heute kaum Resonanz in der Öffentlichkeit fanden. Nur Dammbeck fand die angesprochenen Zusammenhänge so interessant, dass er gleich (vergeblich) versuchte, Kontakt mit Fuchsberger aufzunehmen, und sich dann langsam mit Hilfe anderer Informanten und diverser Archive in den Sachverhalt einfraß. Und er entwickelte den Plan für ein Filmprojekt, das die geschilderte TV-Szene nicht nur konkret als Leitmotiv an den Anfang stellt. Sie ist auch Ausgangspunkt für eine Recherche, die auf immer wieder miteinander verkreuzten Pfaden neben den Ursprüngen der Game-Shows selbst die US-amerikanische Re-Education-Policy der Nachkriegszeit im Allgemeinen ins Visier nimmt. Und in einem noch größeren Bogen die Geschichte der politischen Aufklärung seit der Französischen Revolution, wo Robbespierre 1794 mit dem „Fest des höchsten Wesens“ einen Versuch unternommen hatte, Massenerziehung und Spiel performativ zusammenzuführen. Im Unterschied zu „Glücksrad“ oder „Der Preis ist heiß“, so die These, waren die Spielregeln aber zu kompliziert und weltfremd, um wirklich beim Volk anzukommen.

Die Spiele nämlich seien in der dortigen Psychiatrie entwickelt worden

Der 1948 in Leipzig geborene und noch zu DDR-Zeiten nach Hamburg übergesiedelte Dammbeck arbeitet auch als bildender Künstler und Autor an seinem Gesamkunstwerk „Herakles Konzept“. In seinen letzten dokumentarischen Arbeiten eröffnet er immer wieder vielschichtige Denkräume, die sich mit Lust und List quer zum üblichen Kulturdiskurs bewegen und keine einfache Auflösung zulassen. So brachte er in „Das Netz“ (2003) den Unabomber Theodore Kaczynski mit den Anfängen des Internets und den kybernetisch geprägten Macy-Konferenzen als Theorie-Labor zusammen. In der Nähe dockt auch „Overgames“ an, setzt den Fokus aber früher bei einem Treffen von Ärzten und Sozialwissenschaftlern im Sommer 1944, wo – ausgehend von der in Richard M. Brickners Buch „Is Germany Incurable?“ behaupteten These von der deutschen Paranoia – therapeutische Strategien für das besiegte Deutschland beraten wurden.

Dammbeck legt seinen Film als essayistische Recherchereise in siebzehn Kapiteln und 163 Minuten an und lässt in den mit historischem Quellenmaterial reich bebilderten Stationen Details und Beziehungszusammenhänge von Margaret Meads Forschungen in Bali bis zum Milgram-Experiment referieren: ein kunstvoll durchgestalteter assoziationsreicher Material- und Gedankenfundus, der in seiner Fülle notgedrungen jedes einfache und unmittelbare Verständnis sprengt. Wohl auch deshalb wird der Film begleitet von einem ausführlichen Internetauftritt und diversen Textveröffentlichungen, die neben Hintergründen zum Film auch ernüchternde Erkenntnisse über den Kulturbetrieb anhand einer recht willkürlich zusammengebastelten Dokumentartheater-Produktion am Hebbel-Theater 2008 zum Thema Re-Education bereithält. Lutz Dammbeck dagegen spielt in seinen Suchbewegungen mit offenen Karten und gibt so immer wieder Anregung zum Weiterdenken und -forschen. In einer Zeit, wo für viele sogenannte Dokumentationen die Form der Recherche nur noch rhetorische Figur für die Propagierung vorgefertigter Ergebnisse ist, tut diese Ernsthaftigkeit gerade in Dammbecks sonst durchaus verspieltem Ansatz gut.

Ab 21. 4. im Kino, Infos: www.overgames-film.com

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