: Ein Blätterdach fürs urbane Loch
Stadtbild Die Pariser streiten über das „Canopée“, ein Konstrukt, das die Bausünden von früher überdecken soll
Paris hat eine neue Attraktion. Ob es sich dabei auch um eine Sehenswürdigkeit im positivsten Sinne des Worts handelt, darüber gehen die Meinungen in der französischen Metropole allerdings stark auseinander. Im Zentrum, nur je ein paar hundert Schritte vom Centre Pompidou und vom Louvre entfernt, ist nach fünfjährigen Bauarbeiten in diesen Tagen das völlig renovierte Forum des Halles eingeweiht worden. Die Arbeiten sind noch nicht ganz zu Ende, aber seit seiner offiziellen Eröffnung können sich Pariser und Touristen ein Bild vom neuen Zentrum machen.
Es trägt den Namen „Canopée“. Dieser Begriff bezeichnet das Dach der Baumkronen eines Urwalds. Angesichts des Pariser Stadtbilds, in dem es an Grünflächen überhaupt und speziell an Bäumen fehlt, tönt das schon fast wie unfreiwilliger Humor. Auch ist die dominierende Farbe der Konstruktion aus Glas und Metall Gelb, nicht Grün. Wie ein überdimensioniertes „Blatt eines Baums“ soll sie das darunter liegende Shoppingzentrum überdecken, wirkt aber nicht sonderlich luftig und sieht eher wie ein schamvolles Feigenblatt aus.
Denn für die meisten älteren Bewohner von Paris ist es eine ewige Schande, dass zu Beginn der 1970er die einst hier befindlichen historischen Markthallen abgerissen wurden. Städtebaulich bleibt der damalige Versuch, Paris mit einem unterirdischen Bahnhof, wo sich Metro und Schnellbahn kreuzen, in kühner Weise mit dem Abbruchhammer zu modernisieren, eine nicht wiedergutzumachende Erzsünde.
Die Mitte des 19. Jahrhunderts Victor Baltard entworfenen zwölf Pavillons, die Émile Zola literarisch als „Bauch von Paris“ verewigt hat, würden heute bestimmt als Schmuckstück oder gar als Unesco-Kulturerbe der Menschheit unter Denkmalschutz stehen. Im 20. Jahrhundert musste sich das alte Pariser Zentrum aber dem Verkehr anpassen, und der Umschlagplatz für Früchte, Gemüse, Fleisch und Fische in der Stadtmitte war alles andere als praktisch. Die Händler wichen nur zu gern auf das hygienischere und besser mit Nachschub zu versorgende Grossisten-Marktzentrum in Rungis aus.
Schon als die alten Hallen abgerissen wurden, stritt man sich, was hier nun Platz finden sollte. Der Staatspräsident, Valéry Giscard d’Estaing, wollte einen Park. Der Pariser Stadtpräsident Jacques Chirac aber setzte nach zwei Volksabstimmungen ein Konzept mit der RER-Schnellbahn durch, das ästhetisch an Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten war. Seither nannten die Pariser das lieblose „Forum des Halles“ einfach „le trou“: das Loch.
Als Modell sah der Entwurf des renommierten Architekten Patrick Berger, der den neuen Wettbewerb über die Zukunft des Lochs für sich entschieden hatte, nicht schlecht aus. Unter einem federleicht wirkenden Schirm aus Glas und Metall sollten die Pariser flanieren und einkaufen können. Diese Idee ist für den Betrachter des fast vollendeten Bauwerks nur bedingt nachvollziehbar, die Realisierung wirkt wuchtig.
Der bürgerliche Gemeinderat Serge Federbusch, der selber früher Generaldirektor der Verwaltungsgesellschaft des Forums gewesen war, vermutet angesichts des Resultats sogar, dass ein „Fluch“ über dem Loch liegen müsse. Denn es gibt Probleme mit Regenwasser, das aus Lücken zwischen den Dachlamellen des Canopées auf die Köpfe der Passanten tropft.
Anwohner wie Auslandspresse überbieten sich nach der Einweihung mit Kritik und Schmähungen. Wie eine abgestürzte „fliegende Untertasse“ sehe das Canopée aus, sagen die einen. Die anderen meinen fatalistisch, hässlicher als vorher habe es nicht werden können. Die gelbe Metallkonstruktion gleiche der Farbe „ranziger Butter“, schrieb hämisch die britische Zeitung The Guardian, für die Paris eine Chance verpasst hat, in Sachen urbaner Ästhetik London nachzueifern.
In Paris erinnert man sich noch gut, wie heftig anfangs über die bunten Röhren des Centre Pompidou gestritten wurde, heute aber gehört das Museum für moderne Kunst zum Stadtbild. Ein Publikumserfolg dürfte das neue Zentrum aller Kritik zum Trotz werden. Denn mehr denn je ist das Forum des Halles unter dem gelben Canopée ein riesiges Einkaufszentrum mit Shops internationaler Kleider- und Sportmarken, Restaurants und Cafés als Magneten.
So soll die Anlage in der Stadtmitte auch (wieder) zu einem Treffpunkt von „Tout-Paris“ werden. Vierzig Millionen Besucher pro Jahr werden als Kunden erwartet. Ein Trumpf ist der zentrale Bahnhof der RER-Schnellbahn, der es der Bevölkerung der Vororte erlaubt, schnell zum Shopping ins kommerzielle Herz der Hauptstadt zu kommen. Wenn diese Rechnung aufgeht, dann werden die schwarzseherischen Prognosen der Meckerer Lügen gestraft.
Rudolf Balmer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen