Von Kretschmann lernen

ÖKOPARTEI Die Grünen treffen sich in Berlin zur Wahlnachlese – und lassen sich von ihrem Gewinner aus Baden-Württemberg ins Gewissen reden. Gewarnt wird trotzdem

Folgen sie ihm? Kretschmann neben den Parteichefs Özdemir und Peter (rechts) Foto: Stefan Boness/Ipon

Aus Berlin Ulrich Schulte

Winfried Kretschmann fügt sich ins Unvermeidliche. Baden-Württembergs Ministerpräsident zieht sich Arbeitshandschuhe an, greift die Schaufel und pflanzt eine Rebe der Tafelweintraube „Georg“ in den Hof der Uferhallen im Berliner Stadtteil Wedding. Wieder ist ein trister Asphaltplatz ein bisschen grüner. So soll es, geht es nach den Grünen, nach 2017 in ganz Deutschland sein.

Kretschmann ist nach Berlin gekommen, um seiner Partei ins Gewissen zu reden. Was lernen die Grünen von ihm, der bei der Landtagswahl gut 30 Prozent schaffte? Der die CDU düpierte – und jetzt über Grün-Schwarz verhandelt? Sind die Grünen gar eine neue Volkspartei?

Der kleine Parteitag, zu dem am Samstag Spitzenleute aus der ganzen Republik anreisten, war die offizielle, groß angelegte Wahlnachlese. Das vorab: Auf erstaunlich viele Punkte konnten sich alle einigen.

Kretschmann beginnt vorn auf der Bühne mit Optimismus. Die deutsche Gesellschaft ticke viel offener, sozialer und ökologischer, als es sich die CDU und manche Grüne vorstellen, ruft er. „Wir müssen uns an die Spitze der Entwicklung stellen – und diesen Dingen nicht hinterherbellen.“ Die Botschaft der Grünen in Baden-Württemberg sei „ökologische Modernisierung und Prosperität“ gewesen.

„Elastische Grundsätze“

Kretschmann hat mit diesem Versprechen massiv Wähler von SPD und CDU zu den Grünen gezogen. Er verteilt ein paar Spitzen an den linken Parteiflügel. Die Grünen bräuchten klare Grundsätze, findet er, müssten diese aber „elastisch und flexibel“ handhaben. „Auch auf Umwegen kommt man ans Ziel.“ Die Partei müsse Bündnisse schmieden und dürfe keine Angst vor Kompromissen haben. Nur so könne sie „wachsen und die Republik prägen“.

Das dominierende Thema von Kretschmanns Wahlkampf war die Flüchtlingspolitik. Der Oberrealo hatte schon 2014 einer Asylrechtsverschärfung im Bundesrat zugestimmt. Damals war die Empörung bei den Grünen groß. Im Herbst 2015, als Angela Merkels Koalition erneut Verschärfungen im Tausch gegen Finanzhilfen für die Länder vorschlug, stimmten neben Baden-Württemberg mehrere andere grün mitregierte Länder zu. Kretschmann hatte im Wahlkampf offensiv Merkels Flüchtlingspolitik gelobt.

Dann sagt Kretschmann einen ehrlichen Satz. „Wenn man selbst nix anders auf den Tisch legen kann, dann muss man mäßige Lösungen mittragen – und sich mit Globalkritik zurückhalten.“ Das ist eine unbequeme Wahrheit für die Partei. Denn eines bestreiten führende Grüne nicht, lassen sich aber ungern damit zitieren: Während der Flüchtlingsdebatte drückten sich die Grünen um die Frage herum, ob und wie sie die unkontrollierte Einwanderung Hunderttausender in den Griff bekommen wollten. „Ganz klar: Da fehlte uns ein Konzept“, sagt ein Stratege aus der Fraktion.

Am Rednerpult fallen immer die gleichen Worte. Orientierung bieten. Verantwortung übernehmen. Eigene Konzepte anbieten, statt nur zu meckern. Und, ach ja, der Klassiker: „Haltung zeigen.“ Das allermeiste war schon in den Wochen zuvor gesagt und geschrieben worden.

Doch ein paar entscheidende Nuancen werden deutlich. Parteichef Cem Özdemir weist darauf hin, worum es bei der ökologischen Modernisierung gehe. Umwelt und Wirtschaft seien für Grüne kein Gegensatz mehr. „Nein, sie bedingen einander geradezu.“ Wenn Grüne über Gerechtigkeit redeten, dann lieferten sie sich keinen Überbietungswettbewerb mit der Linkspartei, wer mehr Geld umverteile. Stattdessen müsse der Bildungserfolg endlich von der Herkunft abgekoppelt werden.

Das ist so ein grüner Dissenz. Die einen wollen hauptsächlich in Kitas, Schulen und Universitäten investieren – und dafür weniger Geld in klassische Sozialtransfers stecken. Hartz-IV-Empfänger sind eben keine typischen Grünen-Wähler. Die anderen definieren Gerechtigkeit auch über Umverteilung des Reichtums. Solche Konflikte werden jedoch erst im Laufe des Jahres zutage treten. Die Grünen planen einen Gerechtigkeitskongress, ein Parteitag wird sich im Herbst mit dem Thema beschäftigen.

Die Gesellschaft, sagt Kretschmann, sei viel offener, als es sich die CDU und manche Grüne vorstellen

Vor Özdemirs Rede macht in der Halle das Gerücht die Runde, er könne gleich sein Interesse an der Spitzenkandidatur 2017 erklären. Doch Özdemir verliert kein Wort zu seinen Ambitionen. Dennoch gehen viele davon aus, dass er schon bald seinen Hut in den Ring werfen wird. Er wäre – neben Schleswig-Holsteins Energiewendeminister Robert Habeck, Hofreiter und dem Basis-Grünen Robert Zion – der vierte Mann, der sich für den Platz interessiert. Katrin Göring-Eckardt werden gute Chancen auf den Frauenplatz in dem Spitzenduo nachgesagt.

Simone Peter, ebenfalls Parteichefin und vom linken Flügel, funkte ein paar Signale an die Linksgrünen. Sie forderte in ihrer Rede, „großzügige Kontingente“ von Flüchtlingen in Deutschland aufzunehmen – zum Beispiel aus dem griechischen Camp Idomeni. „Diese Menschen brauchen unseren Schutz.“ Außerdem betonte sie, dass die Unterschiede zwischen den Parteien sichtbar bleiben müssten. Das darf man als Absage an einen Kuschelkurs mit der Union verstehen.

Wenig überraschend ist, dass der Erfolg in Baden-Württemberg von einigen mehr, von anderen weniger euphorisch interpretiert wird. Hessens Fraktionschef Mathias Wagner sagt, die Grünen dürften diese „Riesenchance“ nicht selbst kleinquatschen. Gerhard Schick, linker Grüner und Finanzexperte der Bundestagsfraktion, betont: „Wir dürfen nicht schon gedanklich den Dienstwagen im Kopf haben.“ Wenig später stellt Göring-Eckardt salomonisch fest, dass kein Grüner die Wahlergebnisse egoistisch in der Flügellogik interpretiert habe.

Damit liegt sie richtig. Die Grünen präsentieren sich seit den Wahlen weitgehend geschlossen, und sie halten das auch auf dem Länderrat durch. Außerdem räumen sie eine kleine Hürde für eine Regierungsbeteiligung im Bund beiseite. Die Delegierten beschließen einstimmig, die Satzung zu Basisbefragungen zu ändern. Der Hintergrund: Ein Parteitag soll 2017 entscheiden, ob und mit wem die Grünen Koalitionsverhandlungen aufnehmen. Über den fertigen Koalitionsvertrag will die Partei dann alle Mitglieder entscheiden lassen – wie es auch die SPD 2013 getan hat.

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