Singen und das Wort ergreifen

Stalinismus Wie Eisler wünschte: Im Kammermusiksaal fand einer der seltenen Wiederbelebungsversuchedes Brecht/Eisler-Lehrstücks „Die Maßnahme“ statt – mit dreihundert SängerInnen

Am 11. November 2015 wurde am Pariser Platz bereits Kapitel V der „Maßnahme“ aufgeführt: „Was ist eigentlich ein Mensch?” Foto: Hilmar Franz

von Katharina Granzin

Die Zeit geht auch an der Kunst nicht unbemerkt vorbei. Schon gar nicht an der Politkunst. Wenn man also knapp 85 Jahre nach der Uraufführung von Bertolt Brechts Lehrstück „Die Maßnahme“ auf die Bühne bringt, dann stellt sich die dringende Frage, wie man das macht. Und natürlich: warum. Auf beides gibt es keine einfache Antwort. Eine Initiative unter Leitung der Regisseurin Fabiane Kemmann und des Dirigenten Marcus Crome unter Beteiligung zahlreicher Berliner Laienchöre hat „Die Maßnahme“ nun auf eine Weise umgesetzt, die, wie man stolz und vermutlich zu Recht verkündet hat, der Besetzung der Uraufführung am nächsten kommt. Denn dreihundert SängerInnen muss man erst einmal zur Verfügung haben.

Denn „Die Maßnahme“ ist nicht nur ein Lehr-, sondern, auf der musikalischen Seite, vor allem ein Chorstück. Hanns Eisler hat es komponiert und dabei die deutsche Arbeiterchortradition fest im Blick gehabt. Die Aufführung durch Laienchöre wurde vom Komponisten ausdrücklich gewünscht. Einer der Chöre der Uraufführung von 1930, so ist auf dem Programmzettel der aktuellen Produktion zu lesen, war der Berliner Arbeitersängerchor. Allein die Tatsache, dass heute kein Chor mehr so heißen würde, zeigt, wie sich die Zeiten geändert haben.

Das Stück handelt von einer moralisch-revolutionären Krisensituation. Vier Revolutionäre treten vor ein Parteigericht (den Chor), um sich für die Tötung eines jungen Genossen zu rechtfertigen. Sie berichten, und stellen dabei szenisch nach, wie sie verkleidet zur Agitierung der chinesischen Kulis über die russisch-chinesische Grenze gegangen waren, der junge Genosse aber, von Mitleid und menschlicher Anteilnahme bewegt, sich seine Maske abriss und damit die Gruppe in Gefahr brachte. Seine Tötung im Namen der revolutionären Vernunft sei im Anschluss mit seinem eigenen Einverständnis geschehen.

Bereits nach der Uraufführung wurde „Die Maßnahme“ heftig diskutiert und später als Vorabrechtfertigung der stalinistischen „Säuberungen“ gesehen. Brecht selbst verbot nach 1945 weitere Aufführungen. Erst in den letzten paar Jahrzehnten kam es zu einzelnen Wiederbelebungsversuchen.

Rein formal gesehen (was Brecht und Eisler sicher als inadäquate Betrachtungsweise abgelehnt hätten) ist „Die Maßnahme“ ein ungemein spannend konzipiertes, vielschichtiges Stück Musiktheater. Die mehrfache Brechung der darstellerischen Fiktion in den Sprechrollen, die Rollenzuweisung an den Chor, die verschiedenen sprachlichen und musikalischen Kommentarebenen, die literarischen und musikalischen Bezüge zum Passionsgedanken – all das summiert sich zu einem Grad struktureller Komplexität, angesichts dessen es nicht verwundert, wenn damals am Schluss jeder herausgelesen und -gehört hat, was er wollte. Für die nachrevolutionären, nachkriegsgeborenen Nachwendemenschen, also: für uns, die wir ein knappes Jahrhundert später leben, wäre es aber notwendig und angemessen, diese formale Komplexität deutlich sichtbar zu machen – zu zeigen, dass es sich lohnt, „Die Maßnahme“ aufzuführen, weil es sich um Kunst handelt, nicht weil das Stück ein revolutionäres Dilemma abbildet.

„Die Maßnahme“ist ein spannendes, vielschichtiges Stück Musiktheater

Die Aufführung von Kemmann/Crome aber scheint aus noch einer ganz anderen Motivation heraus entstanden zu sein. Die Chöre stehen hier eindeutig im Mittelpunkt. Der Arbeiterchorgedanke ist es, der mit dem Projekt wiederbelebt werden soll; und das gelingt auch. Es ist ein schöner Effekt, wenn zu Beginn, als ein Chor von gerade einmal achtzig Menschen auf dem Podium steht, sich dahinter ein großer Teil vermeintlichen Publikums erhebt, die Noten aufgeschlagen in der Hand, und zu singen anhebt. Für einen zusammengewürfelten Haufen verschiedener Laienchöre ist es musikalisch und klanglich eine wirklich runde Sache. Dass bei Eislers streng rhythmisierter Musik nicht immer alle metrisch mithalten und der eine oder die andere vielleicht mal ganz neben dem Takt mit den Noten wippt, ist ein Effekt von ungewollter Authentizität, der möglicherweise auch bei der Arbeiterchor-Uraufführung nicht ausblieb.

Schade nur, dass man die gesungenen Texte nicht versteht. Das ist normal und liegt nicht an den Singenden, aber es ist doch eine sehr eigenwillige Regieentscheidung, den Text der Schauspieler (die ihren Text ablesen und ansonsten nur wenig inszeniert sind) groß auf eine Leinwand zu projizieren, den Text des Chors dagegen nicht – obwohl doch bekanntlich gesprochener Text viel besser zu verstehen ist als gesungener.

Die enge Verzahnung von dramatischer und musikalischer Ebene, auf die es doch eigentlich ankommt, wird dadurch ad absurdum geführt. Manchmal allerdings dringen größere sprachliche Einheiten aus dem Gesang. Einmal ist deutlich zu hören: „Schön ist es, das Wort zu ergreifen im Klassenkampf.“