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„Ein ganz anderer Rhythmus“

Sommerzeit Auf 1.59 Uhr folgt 3.00 Uhr – an diesem Sonntag. Psychologe Jan Kalbitzer erklärt, was die geklaute Stunde mit uns anstellt: Sie schlägt auf die Moral

Blöde Zeitumstellung: Hormonell gesehen liegen wir noch in den Federn, real sitzen wir im Auto. Das kann nicht gut sein!  Foto: Chr. Plochacki/plainpicture

Interview Claudius Prößer

taz: Herr Kalbitzer, die Umstellung auf Sommerzeit nervt, man ist müde, schlecht gelaunt. Offenbar bringt sie aber auch unseren moralischen Kompass durcheinander. Was hat es damit auf sich?

Jan Kalbitzer: Ein Wissenschaftler an der Universität in Seattle, Christopher Barnes, hat dazu Studien durchgeführt. Unter anderem hat er Google-Anfragen statistisch ausgewertet. Dadurch konnte er bereits 2012 nachweisen, dass nach der Zeitumstellung Menschen bei der Arbeit verstärkt prokrastinieren, indem sie im Netz nach freizeitbezogenen Themen suchen. 2015 hat Barnes in einem Artikel gezeigt, dass nach der Zeitumstellung Themen oder Begriffe mit moralisch-ethischem Bezug seltener gegoogelt werden. Diese Methode ist wissenschaftlich sicher angreifbar, aber spannend.

Hat Barnes das noch weiter untersucht?

Er hat das unter Laborbedingungen nachgestellt, mit Probanden, bei denen Schlafmangel induziert wurde, indem sie nachts regelmäßig E-Mails beantworten mussten. Anschließend sollten sie Geschichten mit einem moralischen Aspekt beurteilen. Da ging es um kleinere Schmiergeldzahlungen oder die Gefährdung von Kollegen durch Nichtbeachtung von Vorschriften des Arbeitsschutzes. Es zeigte sich, dass sie ein verringertes Bewusstsein für moralische Fragen hatten.

Wie kommt das?

Barnes geht davon aus, dass durch Schlafmangel die Funktion unseres frontalen Gehirns, das für höhere kognitive Fähigkeiten zuständig ist, nachlässt und dadurch die Konzentration sinkt. Meine Interpretation wäre: Wir setzen uns weniger mit Moral auseinander, weil die Anpassung an den neuen Tagesrhythmus unsere kognitiven Ressourcen so in Anspruch nimmt – beispielsweise, damit wir keine Unfälle bauen, wenn wir zu einer Zeit zur Arbeit fahren, zu der unser Gehirn vor ein paar Tagen noch verlässlich im Schlafmodus sein durfte.

Aber ist der Effekt nicht marginal, wenn es nur um eine Stunde geht?

Wie sehr es bei der einzelnen Person ins Gewicht fällt, ist die Frage. Aber statistisch betrachtet gibt es offenbar einen Effekt. Es geht ja nicht einfach nur um die eine Stunde weniger Schlaf – so was können wir schon ab. Aber die Zeit­umstellung verändert unseren ganzen Tagesrhythmus sehr stark, und danach passen Tagesstruktur und Hormonhaushalt oft nicht mehr so richtig. Das kann ziemlich anstrengend sein. Unser Körper ist bestimmte Essenszeiten gewohnt, Aufwach- und Einschlafzeiten. Wir werden zu einem Zeitpunkt hungrig, auf den wir jetzt einen Termin gelegt haben, oder wir haben Energie, wenn wir sie gar nicht brauchen, beispielsweise abends.

Kommt denn jeder gleich schlecht mit der Umstellung klar?

Sicher nicht. Es gibt ja verschiedene Typen, die sogenannten Lerchen und Eulen. Die Stunde, die morgens fehlt, tut vor allem den Eulen weh, die spät ins Bett gehen und nun noch früher rausmüssen. Mir persönlich kommt die Zeitumstellung sehr entgegen. Ich wache meist auf, wenn die Vögel anfangen zu zwitschern, dann trinke ich Kaffee und beantworte E-Mails. Für mein Ansehen bei Kollegen oder auch Journalisten ist es viel besser, wenn ich eine Mail um halb sieben beantworte als um halb sechs, so wie bei Ihnen heute Morgen. Halb sechs, das wirkt auf viele einige offenbar seltsamer als halb sieben – auch wenn es biologisch gesehen die gleiche Zeit ist.

Die Sommerzeit soll uns ja eigentlich produktiver werden lassen.

Meines Wissens fehlt bis heute ein Nachweis, dass sie wirklich positive wirtschaftliche Folgen hat. Ich finde das spannend, weil es ein Beispiel dafür ist, dass sich Ideen nicht aus rationalen Gründen durchsetzen, sondern einfach, weil man davon sehr überzeugt ist.

Foto: David Betances
Jan Kalbitzer

37, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 2009 forscht und arbeitet er an der Charité, seit 2015 vor allem über die Auswirkungen des Internets auf die Psyche.

Geben Sie uns noch einen Rat, wie wir die fehlende Stunde diesmal gut in den Griff bekommen.

Menschen, die wissen, dass sie darunter leiden, können sich stufenweise umgewöhnen: vor der Zeitumstellung über mehrere Wochen hinweg jeden Tag etwas früher aufstehen. Das andere wäre, dass wir dem erhöhten Ressourcenbedarf unserer Psyche nach der Umstellung Rechnung tragen und nicht zu viele anstrengende Dinge einplanen. Vielleicht auch nicht ausgerechnet am Sonntag nach der Zeitumstellung schwierige Themen in der Familie diskutieren, bei denen es erfahrungsgemäß zu Streit kommt.

In einer Stadt wie Berlin gibt es ja auch genug Menschen, die unter heftigem chronischem Schlafmangel leiden.

Ja, das erkennt man immer gut daran, wenn Menschen sagen: „Also ich kann sofort einschlafen, wenn ich mich hinlege.“ Das halten sie meistens für einen Ausweis von Gesundheit, in Wirklichkeit ist es ein K.-o.-Einschlafen. Ein Wissenschaftler hat letztens einen interessanten Vergleich gezogen: Wenn ein Waschprogramm zweieinhalb Stunden läuft, nimmt man die Wäsche nicht schon nach zwei Stunden aus der Maschine. Aber beim Schlaf tun wir im Grunde genau das: Wir stellen den Wecker, unterbrechen den Schlaf und meinen, wir müssten jetzt leistungsfähig sein. Dass chronischer Schlafmangel die kognitive Leistungsfähigkeit dauerhaft verschlechtert und etwa zu mehr Unfällen führt, ist nachgewiesen. Wird Leben hingegen lebenswerter, wenn man versucht, mehr vom Tag zu haben, indem man auf Schlaf verzichtet? Das wäre mir neu.

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