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David Joram verfolgt die emotionale Debatte zwischen Fans und Gegnern des MyfestsAuf der Suche nach dem wahren Kreuzberg

Halis Sönmez ist die Geschichte Kreuzbergs. Sagt er jedenfalls. 1970 zog Sönmez in den Bezirk, besetzte Häuser, schmiss am 1. Mai Steine auf „die Bullen“ und verstand sich als Revolutionär im besten Sinne. Aber die Zeiten ändern sich: Aus dem Besetzer ist ein Besitzer geworden. Weniger systemkritisch, weniger oppositionell – so wie das Maifest, das seit 2003 Myfest heißt, von Sönmez’ Crew initiiert und festivalisiert worden ist.

„ ‚Brot und Spiele‘ nannte man das früher, heute spricht man von ‚Event‘ “, kritisiert Marco Lorenz. Er sitzt am Dienstagabend wie Sönmez auf dem Podium im SO36 in der Oranienstraße. Im Hintergrund hängt die Antifa-Fahne, vor der Bühne ein „Stoppt-Henkel“-Banner.

Lorenz vertritt das linke Bündnis der „Revolutionären 1.-Mai-Demonstration“; die Position ist klar: „Wir lehnen das Myfest ab, weil es nur noch dazu dient, Kreuzberg zu befrieden.“ Der politische Protest werde abgedrängt. Lorenz: „Wir aber sagen: Nein zum Ballermann in Kreuzberg! Lasst uns ein neues Kiezfest von unten aufbauen und Stellung beziehen.“

Von unten, darum geht es auch Sönmez. Für ihn gehören die Verkaufsstände und das Unterhaltungsprogramm einfach dazu. „Von unten. Das sind doch wir, die Bewohner“, sagt er. „Wir organisieren hier das Myfest, niemand von außen. Lasst uns zusammen Wege finden. Wir sind nicht gegen euch!“

Dann beginnt eine emotionale Diskussion, in der jeder zweite Redner beteuert, ein echter Kreuzberger zu sein. Die Sönmez-Fraktion argumentiert, dass es für alle Platz gebe, auch für politisch Motivierte. Die Kritiker beklagen, dass harte Themen wie Rassismus, Polizeigewalt und steigende Mieten verdrängt würden. „Der 1. Mai ist heruntergekommen“, findet einer. „Man sieht Faschos auf dem Myfest, erlebt Sexismus und Rassismus“, sagt eine andere.

Sie wünschen sich den alten 1. Mai zurück mit klaren Grenzen zwischen Linken und Polizei, Gut und Böse. Ein bisschen Krawall darf’s ruhig geben – die harte Konfrontation müsse das Ziel sein, und nicht die von Sönmez propagierte Konsensualisierung.

Doch allzu viele Kreuzberger haben die Planer eines alternativen Kiezfests mit ihren Ideen bisher nicht mobilisieren können: Lediglich 70 Menschen fanden den Weg ins SO36. Am 5. April steht das nächste Treffen in der Regenbogenfabrik an. Dann geht die Suche nach dem goldenen Mittelweg weiter – vorerst sind die Fronten aber verhärtet. Wie einst auf dem Maifest.

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