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Die schwarzen Löcher der Erinnerung

LITERATUR Eric Schneider und Hella S. Haasse, zwei Romanautoren, über die niederländische Kolonialherrschaft in Indonesien

von Katharina Borchardt

Weißt du noch? Weißt du noch, damals in Batavia? Das fragen die alten Holländer einander, die sich in Eric Schneiders Roman „Zurück nach Java“ in einem Hotel an der Nordsee treffen. Sie kennen sich aus Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien, das die Niederlande über dreihundert Jahre lang – in unterschiedlichen Ausdehnungen – beherrschten. Als 1941 die Japaner einmarschierten, war es damit jedoch vorbei. Nach dem Krieg erklärte sich Indonesien unabhängig, was aber in einem blutigen Guerillakrieg gegen die zurückgekehrten Kolonialherren erkämpft werden musste. 1949 wurde die indonesische Unabhängigkeit international anerkannt.

Wer bis dahin noch nicht nach Europa zurückgekehrt war, tat es jetzt. Auch Schneiders Hauptfiguren Mees Stork, Alice Aronius, ihr Ehemann und ihr Sohn Ferdy gingen in jenen Jahren nach Holland zurück. Mees hatte in Batavia – wie Jakarta damals noch hieß – ein mondänes Hotel-Restaurant geführt. Zurück in den Niederlanden eröffnete er ein neues Gasthaus an der Nordseeküste. Er nannte es „Hotel Hoogduin“, und er feiert darin alle fünf Jahre im August mit indonesischer Reistafel und Gamelanmusik ein bizarres Fest: den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.

Denn damit war der Krieg im Pazifik auf einen Schlag vorbei und die Holländer, die überlebt hatten, kehrten zurück aus den japanischen Arbeitslagern, von der Zwangsarbeit an der Thailand-Burma-Eisenbahn und aus dem Exil. Eingeladen zu den Jubiläen der erfreulichen Vernichtung sind stets Alice, die früher ein Verhältnis zu Mees hatte, und ihr Sohn Ferdy, der inzwischen 53 Jahre alt und Botschafter in Angola ist. Alice’ Ehemann war früher ebenfalls dabei, ist kürzlich aber verstorben. Der Roman spielt an einem Augusttag Anfang der 1990er Jahre im „Hotel Hoogduin“ und tippt auch den darauffolgenden Morgen kurz an.

Immer noch mittendrin

Mees, Alice und Ferdy kommen an diesem Tag wieder einmal zusammen, um die immer gleichen Erinnerungen an ihr früheres Leben in Batavia auszutauschen und abzugleichen. Dabei kommt es zu Aggressionen zwischen Mees und Alice, die sich auch über ihre Beziehung zueinander niemals einig werden konnten. Kunstvoll gelingt es Schneider, intensiv freudlose Spannungen zwischen den Figuren entstehen zu lassen, die sich weder von ihrer Vergangenheit noch voneinander lösen können. „Wir haben nichts überlebt“, fasst der hellsichtige Ferdy die gedrückte Stimmung zusammen, „wir stecken noch mittendrin. Wir sind überhaupt nicht frei. Jeden Tag ersticken wir mehr und mehr in unseren Erinnerungen. Jeder für sich. Nicht gemeinsam.“

Nur einer erinnert sich offenbar nicht: Buli Kamidjojo, die vierte Figur in diesem Ensemble. Er ist Niederländer indonesischer Abstammung und bedient die dahinwelkende ehemalige Kolonialelite an diesem Abend. In seiner Schweigsamkeit ist er das stille Zentrum des Romans. Stets zu Diensten wird „Buliboy“ von Mees in Kolonialherrenmanier nicht nur grob herumkommandiert, sondern auch als „Schleicher“ und „Kokospalmenkletterer“ beschimpft.

Gleichzeitig erfährt man, dass Buli der neue Besitzer des Hotels ist, in dem dem inkontinenten Mees nur noch ein Wohnrecht bleibt. Buli will aus dem Haus eine „Toplocation mit Tropenflair“ machen, und auch der neue Name steht schon fest: „Hotel Nieuw Buitenzorg“. Eine scharfkantige Reminiszenz an den kolonialen Ort Buitenzorg – also: Sanssouci –, der im 18. Jahrhundert von den Niederländern nahe Batavia gegründet wurde und zeitweilig die Hauptstadt des Inselarchipels war. Heute heißt die Stadt Bogor. Buli schlägt die Niederländer hier mit ihren eigenen Waffen, während er zugleich den Lakaien mimt.

Dieses doppelbödige Spiel verleiht dem Roman etwas Groteskes. Genau das aber macht den Reiz der Geschichte aus, die an ein Kammerspiel erinnert: Das kleine Figurenpersonal agiert dialogreich auf engstem Raum; Schneider gelingt eine hoch aufgeladene Szenerie. Kein Wunder, kommt er doch vom Theater. Der Schauspieler wurde 1934 in Batavia geboren. Zusammen mit seiner Mutter und seinen beiden Brüdern Carel Jan und Hans saß er in den 40er Jahren in einem japanischen Internierungslager.

Seine Kraft gewinnt der Roman „Zurück nach Java“ aus der erschütternden Einsamkeit der drei Niederländer, einer gemeinsamen Schuld, die nach und nach offenkundig wird, und der Undurchdringlichkeit ihres fremdartigen Dieners. Nur zum Ende hin gerät die Geschichte etwas aus dem Gleichgewicht: Nahm sich Schneider anfangs noch die Zeit, seine Figuren ausgiebig streiten zu lassen, muss am Ende alles schneller gehen, und es werden traumatische Erlebnisse allzu zügig offenbart.

Auch bei Hella S. Haasse sind es Erinnerungen, die an die Oberfläche dringen. Sie selbst wurde 1918 in Batavia geboren und kehrte als Zwanzigjährige in die Niederlande zurück, um zu studieren. Mehr oder minder schwere Wehmut ist eine Grundkonstante in der niederländischen Literatur seit 1945, die von Indonesien handelt. Bei Haasse ist es ein Journalist, der den entscheidenden Anstoß gibt. Er forscht über Dee, eine frühere, politisch sehr aktive Freundin der Erzählerin Herma. Für die Recherche bittet er Herma um Mithilfe, so dass sie beginnt, noch einmal über ihre Freundschaft zu Dee in Batavia und Dees kolonialkritische Ansichten nachzudenken.

Berührendes Spätwerk

Hella Haasse, die bereits mit den Romanen „Der schwarze See“ und „Die Teebarone“ äußerst kundig über Niederländisch-Indien geschrieben hat, entfaltet auch in ihrem berührenden Spätwerk „Das indonesische Geheimnis“ ein sozialhistorisches Panorama, das weit über die Zwischenkriegszeit, in der die Geschichte spielt, hinausgeht. Auf der einen Seite reicht es tief in die Vergangenheit hinein – Hermas Mann Taco etwa forschte als Historiker über Laurens Reael, der Anfang des 17. Jahrhunderts über die Molukken herrschte, und Herma selbst als Kunsthistorikerin über javanische und chinesische Ornamentik –, auf der anderen Seite greift es aus bis in die Jetztzeit des Jahres 1990.

Auch einen hübschen intertextuellen Verweis baut Haasse ein, indem sie den niederländischen Autor Edgar du Perron, der 1899 auf Java geboren wurde, kurz auftreten und ihre Figuren seinen 1935 erschienen Java-Roman „Kindheitsland“ – einen Klassiker der niederländischen Literaturgeschichte – diskutieren lässt.

Angeregt durch die Anfrage des Journalisten muss Herma feststellen, dass ihr Gedächtnis „voller schwarzer Löcher“ ist. Trotzdem nähert sie sich langsam jenem „indonesischen Geheimnis“, das sowohl die Beziehung zu ihrer Schulfreundin Dee als auch zu ihrem bereits vor Jahren verstorbenen Mann Taco in ein neues Licht rückt und auf eine schockierende Einsicht zusteuert. Trotzdem lässt sich Herma davon nicht so erschüttern, dass sich auch ihr Erzählton ändern würde. Sie ist von Anfang an eine sehr aufgeräumte Erzählerin.

Vielleicht klingen ihre Erinnerungen deshalb so viel ruhiger und konsistenter als die der Schneider’schen Figuren, weil sie mit niemandem über die Richtigkeit ihrer Erinnerungen diskutieren muss. Außerdem lebt sie bereits seit Jahrzehnten im ererbten Haus ihrer Großeltern in der Provinz Overijssel. So heimatlos wie der ehemalige Hotelbesitzer Mees oder der reisende Diplomat Ferdy bei Eric Schneider ist sie also nicht.

Interessant ist, dass beide Autoren ihre Geschichten um einige Jahre rückdatiert haben und Anfang der 1990er Jahre spielen lassen. Damals lebten noch viele Niederländer, die auf Java, Sumatra oder Sulawesi groß geworden sind. Heute sind die meisten Rückkehrer bereits gestorben, so dass auch nur noch sehr wenig neue Literatur über das einstige Kolonialreich entsteht. Hella Hasse starb 2011 im Alter von 93 Jahren. Eric Schneider, der zu der jüngsten Generation gehört, die noch eigene Erinnerungen an Niederländisch-Indien hat, ist heute 81 Jahre alt.

Eric Schneider: „Zurück nach Java. Eine tropische Erinnerung“. Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert. Insel-Verlag, Berlin, 112 S., 16,95 Euro

Hella S. Haasse: „Das indonesische Geheimnis“. Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann und Andrea Kluitmann. Transit-Verlag, Berlin, 160 S., 19,80 Euro

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