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Buchstaben streichen

Leben „Die unend–liche Geschichte“ ist Kims Geschichte. Als Kind wird sie ihr vorgelesen, später liest sie daraus vor. Kurzprosa zum Einschlafen

Illustration: Marén Gröschel

Der Keller. Die Freude auf die leckeren Bratäpfel graut aus, wird von einem unheimlichen Schatten überdeckt, der die gewundene blaue Treppe herauf- und Kim entgegensteigt. Dort unten, weiß sie, wohnen Gespenster. Figuren aus Phantásien, die von den Menschen vergessen wurden.

„Gute Nacht, Kim.“ Kim weigert sich, wieder ganz wach zu werden und vergräbt den Kopf unter der Bettdecke. Papa hat gerade die spannendste Stelle aus der „unendlichen Geschichte“ vorgelesen, die, die sie in- und auswendig kennt, warum muss er gerade jetzt aufhören?

***

15 Uhr, dritte Vorlesung, zweihundert Leute mindestens im Hörsaal, wieder mal. Wenn Kim sich umschaut, nicht wissend, wonach sie sucht, sieht sie niemanden, der sich dem Vorgelesenen widmet. Öde, Studierenden beim Pläneschmieden zuzuhören. Langweilig dem zuzuhören, was vorne vorgetragen wird. Kim fällt eine andere Zeit ein, eine, in der Vorlesen noch nach Spannung klang. Wie schwer es ihr nun fällt, zuzuhören.

Zuhause, auf ihrem Nachttisch, liegt „Die unendliche Geschichte“. In Gedanken streicht sie über die Buchstaben. In den letzten Tagen hat sie das Buch öfter in die Hand genommen, den Gedanken, es zu lesen, aber verworfen.

Schade eigentlich.

***

Kims Stimme klingt gepresst, sie stolpert über Wörter. Ihre Angst, die Kinder und Erwachsenen in der Flüchtlingsunterkunft könnten unruhig werden, schleicht ihr in die Hände. Sie zittern.

Aus dem Augenwinkel sieht Kim ein Mädchen, das sie beobachtet. Zwei Männer kommen leise durch die Tür und setzen sich zwischen die anderen. Kim hat ihr abgegriffenes Buch aufgeschlagen, liest die Stelle mit dem vergessenen Dachboden im leeren Schulhaus vor. Von der Waldlichtung in der Nacht, auf der sich fremde Reisende aus den unterschiedlichen Teilen Phantásiens begegnen.

Irgendwann, es ist inzwischen dunkel geworden, jemand hat das Licht eingeschaltet, taucht Kim wieder aus der Geschichte auf. Der Raum ist noch immer voller Menschen. Sie kommen ihr nun vertrauter vor, bedanken sich bei ihr, bevor sie geht.

Ein seltsames Glücksgefühl bleibt.

***

Langsam atmet Kim aus, was ihr jeden Tag merklich schwerer fällt. Unendlich alt fühlt sie sich, und selbst das nimmt sie bloß noch verschwommen wahr. Wenn Kim ihre Augen aufschlägt, müde, träge, erkennt sie nichts. Vernebelt dringen Worte zu ihr, sie kennt die Worte, vielleicht „Die unendliche Geschichte“?

Oft liest ihr Enkel daraus vor, aber heute klingt die Stimme anders.

„Still, ich muss schlafen“, denkt sie noch, bevor sich ihre Augen wieder schließen.

Mechanisch liest das iPhone weiter.

Sophie Rentschler und Jonas Meyerhof

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