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Kopfschmerz und Kafka

Warten Said floh aus dem Iran und saß in Griechenland im Gefängnis. Schlafen, essen, schlafen – sein Alltag eine ständige Wiederholung. Nur wenn er las, war er woanders

Er war müde, sagt Said, immer müde. Angestrengt starrt er auf den kleinen viereckigen Bildschirm, der sein Fluchtort geworden ist.

Die Reise war weit: Iran – Istanbul. Istanbul – Athen. Athen– Berlin. „Ich war drei Jahre unterwegs.“ Zu Fuß in die Türkei, dann weiter mit dem Bus, über das Meer nach Griechenland. Ohne Papiere wurde er dort über Nacht zum „Illegalen“ erklärt und zum Gefangenen gemacht. Said fand sich wieder in einem Alltag, in dem er nie allein war – acht Menschen mit ihm im Raum, manchmal hörte er es von draußen rufen: „Malaka“. „Verrückte.“

Schlafen, essen.

Schlafen, essen.

Es war ein Alltag voller Zeit, und Zeit, die hat er auch jetzt, in der Küche seiner Neuköllner WG. Said setzt Wasser auf und kocht Chai. Auf dem Herd stehen kalte Nudeln, es riecht nach Deo und Rauch.

„Kennt ihr Amir Hassan Cheheltan?“ Said hat immer viel gelesen, „persische Romane“ sagt er, „Drehbücher, junge iranische Autoren“. „Ganz normale Romane.“ In der Enge des Internierungslagers waren sie seine Rettung, gepeichert auf einem Smartphone voller Buchstaben des persischen Alphabets.

Buch für Buch, Download für Download hatte er sie dort gelesen. „Meine Augen sind müde geworden, von dem hellen Licht des Bildschirms.“ Der Bildschirm war Saids Eingang in eine literarische Welt, deren Protagonisten seine Gefährten wurden. Iranische Dramen, Dostojewskis „Schuld und Sühne“. „Alles, was ich finden konnte“, sagt Said, habe er gelesen, um die Zeit zu füllen, die gefüllt werden wollte. Die ihn füllte – mit Leere.

Er wurde freigelassen, versuchte über die albanische Grenze zu gelangen. Wurde wieder von Polizisten aufgegriffen, wurde wieder inhaftiert. Said wird leiser, manchmal lässt er ein deutsches Wort ins Englische einfließen. „Wieder Gefängnis“. Er wählt die Worte präzise. „Flüchtling“, das ist in seinen Augen ein Wort, das seine Lebensgeschichte auf eine Episode verkürzt. Auf die Flucht.

„Habt ihr vielleicht eine Kopfschmerztablette?“, fragt er, mehrmals, vielleicht sind es die Augen. Er ist in sein Zimmer gegangen, das wie eine Station aussieht, Matratze, viele Kissen, Said sitzt auf dem Boden – Kafka liegt auf dem Tisch. „Das Buch hat mir ein Freund im Gefängnis geschenkt. Ich habe versucht es zu lesen, aber es ging nicht in meinen Kopf.“ Eine Übersetzung von Kafkas „Der Prozess“ auf Persisch, die Geschichte eines bürokratischen Albtraums, eines absurden Prozesses, einer undurchschaubaren Anklage ohne Grund. „Ich habe es nicht ausgehalten.“

Kafkaesk. Wie Said warten muss: auf die Freilassung aus dem Gefängnis in Griechenland. In den Wartezimmern der deutschen Behörden. Auf seine Arbeitserlaubnis. „Erst musste ich warten, weil ich illegal war. Jetzt muss ich warten, um für legal erklärt zu werden.“

Er weiß, dass er Glück hatte. Weil er viele Menschen kennt, die ihn unterstützen, weil sein Zimmer von einer Initiative bezahlt wird. Vielleicht kann er bald schon eine Ausbildung als Tischler anfangen.

Und trotzdem: Hier in Berlin, sagt er, kann er sich nicht mehr auf die Geschichten der Romanfiguren konzentrieren, weil sein eigenes Leben zu kompliziert geworden ist. Auf dem Bildschirm liest er jetzt Nachrichten aus dem Iran und Berichte seiner Freunde auf Facebook, die in den Lagern am Rande Europas auf ein anderes, ein freies Leben warten.

Vorhin hat er sich das erste Mal ein Buch in Berlin ausgeliehen: „Die Symphonie der Toten“ auf Persisch, von Abbas Maroufi. Die Erzählung von einer zerrissenen Familie im Iran. „Vielleicht“, sagt Said, „schaffe ich es ja, darin zu lesen“.

Lea Diehl und Thorsten Wiechmann

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