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Gesellschaft von Aufziehfiguren

Bühne Das estnische Regieduo Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo denkt in seiner Inszenierung am Thalia Theater George Bernhard Shaws „Pygmalion“ nicht zu Ende

von Katrin Ullmann

Sie werfen ein Küsschen nach links, ein Küsschen nach rechts. Sie setzen sich, schlagen die Beine übereinander und klappern mit den Teetassen. Sie stehen auf, gehen ein Stück die geschwungene Rampe hinauf und gleich wieder hinab. Sie rücken Stühle, stecken ihre Nasen in ­Bücher, legen die Köpfe schief und nippen am Tee. Sie drehen sich im Kreis, zucken zurück und werfen erneut ein Küsschen nach links und eins nach rechts.

Wie aufgezogen tänzeln die Schauspieler unaufhörlich durch George Bernhard Shaws „Pygmalion“. Am Hamburger Thalia Theater hat es das estnische Regieduo Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo inszeniert. Zuletzt war dort ihre bildgewaltige Handke-Bearbeitung „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“ zu sehen, mit ihren freien Projekten und ihrem 2004 gegründeten Theater NO99 ist das Künstlerduo regelmäßig auf internationalen Festivals vertreten.

In „Pygmalion“ zeichnen Semper und Ojassoo mit einer durchchoreografierten Unruhe aus Gesten, Posen und Haltungen einen Ausschnitt der Gesellschaft. Der besseren Gesellschaft, versteht sich, jener mit Benimmregeln und Attitüden, mit Bücherbildung und weißem Porzellan. Ein halbes Dutzend Schauspieler tanzt dafür in pastellfarbenen 50er-Jahre-Kostümen (Ausstattung ebenfalls Semper und Ojassoo) schrecklich manieriert über die Bühne. Behände eilen sie die Ränder einer Parkett-Halfpipe hinauf und hinab – eine Bühne, die mit wenigen Zeichen Bürgerlichkeit erzählt: gepflegter Holzboden, immense Bücherstapel und ein schwerer roter Vorhang im Hintergrund.

Shaws Stück, 1913 am Burgtheater in deutscher Sprache uraufgeführt, wurde anschließend mehrfach verfilmt und erlangte nach Shaws Tod als Musicalfilm „My Fair Lady“ (1964) mit Audrey Hepburn erneut Berühmtheit. Trügerisch mit „Romanze“ untertitelt, erzählt Shaw darin die Geschichte des Blumenmädchens Eliza Doolittle, das zum gesellschaftlichen Versuchsobjekt der Professoren Higgins und Pickering wird. Der Phonetikexperte Higgins glaubt, dass der Mensch sich nicht über die Herkunft, sondern seine Sprache definiere, und wettet mit seinem Kollegen, dass er dieses Experiment erfolgreich an Eliza vollführen wird. Die Wette wird gewonnen, Eliza aber fallen gelassen, ist am Ende deklassiert und entwurzelt.

Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo interessiert an dem Stück, so erläutern sie im Programmheft, das Phänomen des Unterrichtens und die Rolle des Fremden in unserer Gesellschaft. Berechtigte und auch aktuelle Themen, doch bestehen sie schlichtweg nicht den Praxistest.

Sicherlich inszenieren Semper und Ojasoo überdeutliche Abscheu und Angst, wenn Kris­tof Van Boven als Eliza in diese tänzelnde und hermetisch abgeschlossene Gesellschaft hineinpurzelt. Und ja, sie setzen auch einen neuen Fokus, indem sie das Blumenmädchen Eliza mit Van Boven als Fremden (sogar mit belgischem Akzent!) interpretieren. Weiterhin neutralisieren sie das Mann-Frau-Gefälle Shaws, wenn Oda Thormeyer als Professor Higgins und Marina Galic als Pickering auftreten. Doch ausreichend sinnstiftend oder auch nur abendfüllend ist all das nicht.

Atemlos werden von allen Seiten ein paar Kernsätze des Shaw-Texts deklamiert, einstudierte Abläufe vor- und zurückgespult

Zu stilisiert ist die allererste und auch fortdauernde Setzung der beiden Regisseure, die eine gruselige Gesellschaft voller Aufziehfiguren zeigt. Grimassenhaft weiß geschminkt, mit schwarz umränderten Augen agieren und sprechen alle Schauspieler wie Puppen, bewegen sich durch den Raum wie ferngesteuert und fremdbestimmt. Kristof Van Bovens Eliza (mit „Eliza“ wird in der Inszenierung einfach ein exotischer Männername behauptet), also der tatsächlich Fremde, unterscheidet sich von dieser Gesellschaft zwar durch seine Unbeholfenheit, aber eine psychologische Entwicklung kann (oder soll?) nicht entstehen. Zu absurd sind Higgins, Pickering mitsamt Entourage gezeichnet, als dass Elizas Wunsch nach Integration überhaupt glaubhaft werden kann.

Atemlos werden von allen Seiten ein paar Kernsätze des Shaw-Texts deklamiert, einstudierte Abläufe vor- und zurückgespult und der willenlose Fremde an der Hand durch den Raum gezogen. Nach extraschrillen phonetischen Sprachgewittern – „Eiweißdotter, Schwarzpulver, Schwarztannenzapfen, Edelweiß und Weißensee“ – stehen zu Elizas „Probe aufs Exempel“ schließlich alle Schauspieler an der Rampe und versuchen mit langen Pausen, aufgerissenen Augen und nervösen Lachern Beklemmung zu erzählen, dicht gefolgt wiederum von wortlosen Albernheiten und Teetassen-Slapstick.

Wohin, fragt man sich bald, sollte diese merkwürdige Reise denn gehen? Ins absurd komische oder ins ernsthaft sozialkritische Theaterland? In Richtung Herbert-Fritsch-Groteske oder doch lieber nächste Ausfahrt Gesellschaftskritik mit Flüchtlings-Fremdheits-Nothaltebucht? Es scheint, und das ist das Enervierende an diesem Abend, als wüssten Semper und Ojasoo es selbst nicht.

Nächste Aufführungen: 26. und 31. März jeweils 20 Uhr, 8. April, 19 Uhr; 9. April, 20 Uhr; 10. April, 17 Uhr

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