: Der Schlaf der Diktatur
Tango, Traum und Verfolgung: Das Wiener Filmfestival Viennale bietet neben dem Hauptprogramm einige sorgsam kuratierte Sonderreihen – zum Beispiel das Tribute „Buenos Aires Dreams Itself“
VON CRISTINA NORD
Was haben Wien und Buenos Aires gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel. Wenn sich im Prater das Laub rot und gelb färbt, beginnt am Río de la Plata der Frühling. Wiens Straßen legen sich in Ringe, Buenos Aires folgt dem quadratischen Grundriss amerikanischer Großstädte. Und während es sich die Wiener in ansehnlichem Wohlstand gemütlich machen, ist es noch gar nicht lange her, dass die porteños – so nennen sich die Bewohner von Buenos Aires – auf ihren leeren Kochtöpfen trommelten, weil das Land bankrott war.
Eine Gemeinsamkeit aber gibt es: Beide Städte sind der Filmkunst wohl gesinnt. Sie haben ein anspruchsvolles Kinopublikum, und viel versprechende junge Filmemacher und -macherinnen sind sowohl in Wien als auch in Buenos Aires aktiv. Zudem haben beide Städte ausgezeichnete Filmfestivals – beziehungsweise: hatten ausgezeichnete Filmfestivals. Denn im vergangenen November wurde Quintin, bis dahin Direktor des Buenos Aires Festival Internacional de Cine Independiente (Bafici), unter fadenscheinigen Vorwand gekündigt, und ob das neue Bafici an die Erfolge des alten anknüpfen kann, muss sich erst noch zeigen. Der Direktor der Viennale, Hans Hurch, hat Quintin nun gebeten, eines der so genannten Tributes, der Viennale-Sonderprogramme, zu kuratieren.
Herausgekommen ist dabei „Buenos Aires Dreams Itself“, eine Reihe, die sich, insofern sie Wong Kar-wais „Happy Together“ oder Charles Vidors „Gilda“ präsentiert, vor allem auf den fremden Blick auf Buenos Aires kapriziert. Ein zweites Leitmotiv ist die Paranoia – beispielsweise in Hugo Santiagos bemerkenswertem Schwarzweißfilm „Invasión“. Gedreht wurde „Invasión“ 1969, das Drehbuch stammt von den Schriftstellern Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares.
Lange Zeit galt der Film als verschollen. Die Stadt, in der „Invasión“ spielt, heißt gar nicht Buenos Aires, sondern Aquilea. Doch sie trägt die Züge von Buenos Aires, wie man die Stadt aus den Erzählungen von Borges kennt: Brachen, Hafenbecken, Werksmauern, Straßenkreuzungen, Kneipen – all das hat zwar der prägnanten Schwarzweißfotografie wegen klare Konturen, siedelt aber nah an der Grenze zum Fantastischen, da die Topografie merkwürdig unwirklich bleibt.
Ähnlich steht es um den Film selbst: Zwar ruft er den Plot eines Verschwörungs- und Politthrillers wach, zerlegt ihn aber so, dass nur mehr Einzelteile bleiben. Wie filmische Textbausteine montiert Santiago Szenen von klandestinen Treffen, von Flucht, Überwachung und Konspiration, ohne sie auf die herkömmliche Weise miteinander in Bezug zu setzen. Welche Gruppen in „Invasión“ gegeneinander antreten, lässt sich nicht klar bestimmen, welche Ziele die Akteure verfolgen, genauso wenig. Manchmal tut sich zwischen Tonspur und Bild eine Lücke auf, legen sich das Grollen eines Raubtiers, das Kreischen von Vögeln, das Geräusch, das von einem ungeölten Scharnier ausgeht, über die Szene: Santiagos Film ist dann viel mehr als ein Politthriller eine Studie filmischer Dissoziation.
Von 1976 bis 1983 herrschten in Argentinien die Militärs, und es drängt sich auf, „Invasión“ als düstere Vorahnung dieser Zeit zu begreifen. Aber Santiagos Film ist mehr als das: Wie Godards „Alphaville“ oder „Week End“ entwirft er einen eher diffusen denn politisch benennbaren Ausnahmezustand, und wie die Nouvelle-Vague-Vorbilder reüssiert er, wenn er die narrativen Strukturen gleichsam ins Säurebad legt. Dabei meidet der Regisseur die Mittel der Überspitzung, auf die Godard so gern zurückgreift. Bei ihm ist Buenos Aires ein kalter Ort, eine Winterstadt, in der es Auflockerung durch den Exzess der Groteske nicht gibt.
Paranoid ist auch der Held in Adolfo Aristarains Debüt „La parte del león“ („Der Löwenanteil“, 1978), der durch Zufall an die Beute eines Raubüberfalls gerät und durchzudrehen beginnt, noch bevor die Gangster tatsächlich auf seine Spur kommen. Paranoia macht sich breit in Robert Duvalls „Assassination Tango“. Ein Killer aus New York (vom Regisseur selbst gespielt) wird nach Buenos Aires geschickt, um einen Job zu erledigen. Doch das Opfer ist gar nicht in der Stadt, und während der Killer wartet, verfließt Buenos Aires zu einem bedrohlich-schönen Kontinuum aus Tango, Traum und Verfolgung.
Paranoia schließlich befällt auch den Helden in „Hay unos tipos abajo“ („Unten stehen ein paar Typen“, 1985) von Rafael Filippelli und Emilio Alfaro. Der Film spielt im Jahr 1978, also in dem Jahr, in dem in Argentinien die Fußballweltmeisterschaft ausgetragen wird, ohne dass es die Weltöffentlichkeit groß kümmert, wenn Menschen verhaftet, gefoltert und zum Verschwinden gebracht werden. Der Held, Julio (Luis Brandoni), ist ein unpolitischer Journalist, der eines Tages der Tatsache ins Auge zu sehen hat, dass vor seinem Haus Typen stehen. Beobachten sie ihn? Steht sein Name auf einer der schwarzen Listen? Julio ist sich sicher: Er hat sich nichts zuschulden kommen lassen – doch schützt ihn das angesichts der Willkür der Militärs? Vorstellungen von Sicherheit, Integrität und Ordnung greifen eben nicht in einem Land, das den Terror gegen sich selbst richtet.
Ähnlich wie die Figuren in „Invasión“ streift Julio durch die Stadt, unruhiger von Szene zu Szene, ein Gehetzter. Der Vorstadtzug, der ihn schließlich hinaus in die Pampa bringt, ist alles andere als ein Vehikel ins Offene. Die Schlusssequenz lässt keinen Zweifel: Je flacher das Land, umso mehr gleicht es jener labyrinthischen Falle, die Borges ans Ende seiner Detektivgeschichte „Der Tod und die Kompassnadel“ rückte: In Anlehnung an den Philosophen Zenon erkannte die Hauptfigur der Erzählung das perfekte Labyrinth in der geraden Linie von A nach B. Denn um die Strecke zwischen den beiden Punkten zu passieren, müsse zunächst C, der Punkt in der Mitte von A und B, passiert werden, davor D, der Punkt in der Mitte zwischen A und C, davor E, der Punkt zwischen A und D – und so weiter, ad infinitum: Aus diesem Labyrinth führt kein Weg zurück.
Noch bis zum 26. Oktober, Information unter www.viennale.at