: „Der Produktionsfaktor zählt“
Debatte Elmar Altvater diskutiert heute darüber, warum so viele Menschen flüchten
75, emeritierter Professor für Politikwissenschaft und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac, lebt in Berlin.
taz: Herr Altvater, was haben die vielen Flüchtenden mit dem neoliberalen Kapitalismus zu tun?
Elmar Altvater: Man könnte sagen, dass im neoliberalen Kapitalismus der Mensch nur als Produktionsfaktor zählt – und dann soll er bitte sehr dahin wandern, wo er am ehesten gebraucht wird. Das ist mit einer Entwurzelung verbunden, also letztlich auch einer Flucht aus dem, was etwas pathetisch als Heimat bezeichnet wird. Aber eine solche Erklärung nützt nicht allzu viel.
Warum nicht?
Die Entwicklung des neoliberalisierten Kapitalismus hat unter der Herrschaft der freigelassenen Finanzmärkte zu einer ungeheuren Spaltung in der Welt geführt, die am deutlichsten in den jüngeren Zahlen von Oxfam zum Ausdruck kommen: Dass 62 Personen so viel Vermögen und Einkommen haben, wie die ärmsten 3,5 Milliarden Menschen – also die Hälfte der Menschheit. Diese Ungleichheit führt zu einem ungeheuren Sog in die reichen Weltregionen. Auf der anderen Seite verschlechtert sich die Situation weiter für die Ärmeren.
Kommen die Menschen, weil sie hier gebraucht werden?
Sie werden zum Teil gebraucht, zumindest macht man Gebrauch von ihnen. Man behandelt sie als nützliche und billige Produktionsfaktoren. Wenn man sich etwa neuere Veröffentlichungen der OECD, der Organisation der Industrieländer für Zusammenarbeit und Entwicklung anschaut, dann steht da schon sehr deutlich drin, dass Flüchtlinge auch gebraucht werden können, sofern sie sich in die ökonomischen Entwicklungstendenzen hierzulande eingliedern lassen. Die anderen, die man nicht braucht, kann man dann auch wieder wegschicken. Dieser Umgang mit Flüchtlingen ist zur offiziellen Politikleitlinie geworden.
Ist die aktuelle Situation historisch neu?
Migration hat es in der ganzen Menschheitsgeschichte gegeben. Aber was wir gegenwärtig erleben, ist nicht normale Migration, sondern eine panikartige Flucht aufgrund einer Verschärfung der Situation, wie wir sie bislang nicht erlebt haben.
Was sagt uns diese Situation über den Zustand der Welt?
Dass sie für viele Menschen so ungastlich geworden ist, dass sie ihre Heimat verlassen. Sie tun das ja nicht gerne, sondern weil sie dazu gezwungen sind.
Interview: LKA
Vortrag und Diskussion zu „Fluchtursachen“: 19 Uhr, Rathaus, Kaisersaal
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