: Noch besteht Revolutionsbedarf
Legende In wenigen Tagen wird sich wohl entscheiden, ob Hans-Georg Lindenau seinen linken „Gemischtwarenladen“ räumen muss
Von Luciana Ferrando
Sein Auftritt ist der eines Schauspielers. Hans-Georg Lindenau – kurz HG genannt – sitzt in seinem Rollstuhl vor seinem Laden in der Kreuzberger Manteuffelstraße 99 und geht seiner Routine nach. Der 56-Jährige räumt die Kiste mit Umsonstsachen auf, öffnet die Fensterläden mit den daran aufgehängten Winterjacken und Rücksäcken, räumt den Müll auf dem Gehweg fort. Dann öffnet der gebürtige Bayer die Ladentür und fängt an zu jodeln – auch dafür ist er bekannt: „Wir bleiben alleee!“ und „M99 bleeeeibt!“ Lindenau singt gegen den Schmerz, denn seine querschnittgelähmten Beine tun noch weh. Und gegen die Gentrifizierung in SO 36.
Seit 30 Jahren betreibt HG den „M99 Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf“. Oft schon stand das Geschäft auf der Kippe. Seit Eröffnung habe er 54 polizeiliche Razzien mit über 100.000 Euro Schaden, vier Brandstiftungen und sechs Räumungsklage überstanden, berichtet HG. Doch diesmal ist es wirklich ernst: Bis zum 31. Dezember 2015 hätte er seinen Laden und die verbundenen Wohnräume verlassen müssen. An jenem Tag ist die Frist abgelaufen, die das Amtsgericht gesetzt hatte. Er könnte jederzeit geräumt werden.
Wegen illegaler Untervermietung hatte der Hauseigentümer gegen Lindenau geklagt. Das Gericht gab ihm im bereits im vergangenen Februar recht und bestätigte damit die Kündigung. Doch freiwillig wird HG nicht gehen. „Besetzt seit dem 1. 1. 16“ steht auf seiner Rollstuhllehne. Anfang Januar hat er eine Demo in Kreuzberg organisiert: Mehrere hundert Teilnehmende sprachen sich gegen die Räumung aus. Sein Geschäft ist eben auch ein Symbol für die linke Szene in Kreuzbergs und deren vergangene große Zeit.
Inzwischen schwärmen Touristen aus aller Welt, die den Hinweis auf den M99 in ihrem Reiseführer fanden, von den Laden voller autonomer Relikte: Szenezeitschriften, Kleider, Aufkleber, Buttons, Pfefferspray und Sturmmasken. „Haben Sie Antifa-Bücher?“, fragt ein junger bärtiger Mann in gebrochenem Deutsch. HG lacht und nutzt die Gelegenheit, um einen seiner beliebtesten Texte aufzusagen: „Ja, aber bitte, bei mir herrscht das Känguru-Prinzip! Die Tasche vorne!“ Dann fällt dem Kunden versehentlich eine Kiste runter. „Siehst du, was du alles umreißt? Jetzt muss du dich vor mir verbeugen.“ Wie ernst das gemeint ist, ist schwer zu sagen: In HGs pausenlosem Diskurs fließen Ernst und Ironie, Mythos und Realität ein.
Irgendjemand hilft immer
Feste persönliche HelferInnen hat der auf seinen Rollstuhl angewiesene Lindenau nicht. Kunden und Besucher geben ihm „Anwesenheitsassistenz“, berichtet HG. Wenn diese nicht ausreicht, finde er jemand, der ihn unterstützt. „Es geht darum, bei mir zu wohnen und als Gegenleistung Assistenz anzubieten“, erklärt HG. Er könne sich schlicht keine Assistenz leisten. Immerhin: Seine Mutter und seine Lebensgefährtin, die in Costa Rica wohnt, würden ihn finanziell unterstützen.
Doch mit diesem Modell hat er sich angreifbar gemacht: Bei einer Ortsbesichtigung für Renovierungsarbeiten 2014 will die Hausverwaltung festgestellt haben, dass Lindenau seine Wohnräume im ersten Obergeschoss an „nicht angemeldete Personen“ weitervermietet hatte; die Frauen, die bei ihm damals wohnten, gaben sich nicht als Pflegerinnen aus, sondern als Mieterinnen Lindenaus. HG bestritt dies. Er warf dem Eigentümer und der Hausverwaltung vor, Leute mit alten, sprich preisgünstigen Mietverträgen „mit Bestechung und Mobbing“ rauskriegen zu wollen, um die Wohnungen sanieren und teuer vermieten zu können.
Alles oder nichts
Der Anwalt des Eigentümers weist diesen Vorwurf zurück: „Wenn das so wäre, hätte mein Mandant nicht Herrn Lindenau einen gewerblichen Mietvertrag auf 29 Jahre zum alten Preis angeboten, obwohl das Gericht zu diesem Zeitpunkt bereits erklärt hatte, dem Räumungsanspruch stattzugeben“, sagt Cornelius Wollmann. Die Option, dort auch zu wohnen, wäre in den Vertrag miteinbezogen. Die unerlaubte Vermietung zu unterlassen sei die einzige Bedingung für den Vertragsabschluss, erklärt Wollmann. „Doch Herr Lindenau hat den Vorschlag abgelehnt. Er wollte alles oder nichts.“
HGs Anwalt Burkhard Draeger behauptet dagegen, der Mietvertrag wäre nur gewerblich und würde verhindern, dass HG wie bisher in den Räumlichkeiten wohnen darf.
Auf einer Postkarte, die HG in seinem Laden verkauft, steht: „Immer nur Glück ist langweilig“. Langweilig war es für ihn nie. Seit er 13 Jahre alt ist, wohnt er in Berlin. In den 80ern engagierte er sich in der Hausbesetzerszene und nach der Wende gegen Immobilienspekulation in Kreuzberg. Er organisierte die Besetzung des Lenné-Dreiecks im Schatten der Mauer nahe des Potsdamer Platzes 1988 mit – ein Gelände, das im Westen lag, aber offiziell Staatsgebiet der DDR war.
Ein Jahr später wurde HG leblos am Lausitzer Platz gefunden, nach Augenzeugen ist er von Kirchturm gesprungen. Daran, sagt er, erinnere sich er nicht. Sechs Wochen lag er im Koma. „Meine Familie hatte schon meine Beerdigung vorbereitet“, sagt er. Doch er überlebt und sitzt seitdem im Rollstuhl.
Ob er müde sei, immer wieder kämpfen zu müssen? Ja, sagt er. Sein Lebensmodell möchte er trotzdem nicht aufgeben. Der Revolutionsbedarf sei noch groß und HG als „Ikone der Bedürftigen und Kreuzbergfossil“, wie er das sagt, habe im Kiez noch viel zu leisten.
Die Initiativen „Bündnis gegen Zwangsräumung“ und „Bizim Kiez“, die sich gegen Gentrifizierung engagieren, unterstützen HG und seinen Widerstand. „In Kreuzberg steigen die Mieten weiter und ständig werden Menschen verdrängt. Das ist ein stiller Prozess“, sagt David Schuster vom Bündnis.
Bizim Kiez, die sich gegen die Zwangsräumung eines Gemüseladens in der Wrangelstraße im Sommer 2015 einsetzte (siehe Text auf Seite 44), sprang als Vermittler ein und brachte Eigentümer und Bezirk in Kontakt. Für den 16. Februar ist ein Runder Tisch mit allen Akteuren geplant, an dem auch Monika Herrmann, grüne Bezirksbürgermeisterin, teilnehmen soll.
Das Bezirksamt möchte signalisieren, dass der Laden in Kreuzberg wichtig sei, sagt Jörg Flähmig, Referent der Bürgermeisterin. „M99 hat eine lange Tradition. Es liegt uns am Herzen, dass es zu einer Vereinbarung kommt.“ Er glaube, dass die Gespräche erfolgreich sein können.
Der Anwalt des Eigentümers ist nicht so optimistisch: Lindenau habe bisher keine Gegenvorschläge vorgelegt. „Stattdessen wird mein Mandant seit Oktober 2015 mit anonymen Drohungen überzogen und in den Medien diffamiert“, sagt Cornelius Wollmann.
Ein Kompromissvorschlag sei in Vorbereitung, sagt indes Burkhard Draege, HGs Anwalt. Für Draeger ist der Dialog mit dem Eigentümer und dem Bezirksamt die einzige Chance, dem Eigentümer verdeutlichen zu können, dass „er nicht einfach einen schwer gelähmten Menschen auf die Straße vertreiben kann“.
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