Mit der Macht der Fantasie

Asyl Der Tod eines entkräfteten syrischen Flüchtlings, der zuvor tagelang vor einer Berliner Behörde gewartet hatte, entpuppt sich als Falschmeldung: Ein Helfer hatte die Geschichte erfunden. Die Ehrenamtlichen fürchten nun um ihre Reputation

Flüchtlinge in Berlin: tagelanges Warten auf Registrierung, Geld, Krankenschein Foto: Björn Kietzmann

Aus Berlin Anna Klöpper

Was sich im Laufe des gestrigen Tages bereits angedeutet hatte, wurde am Abend zur Gewissheit: Der angebliche Todesfall eines geschwächten Flüchtlings in der Notaufnahme, der zuvor tagelang vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) in Berlin-Moabit angestanden haben soll, war die frei erfundene Geschichte eines Flüchtlingshelfers. Das habe der Mann bereits bei einer ersten Befragung am späten Mittwochabend zugegeben, teilte die Berliner Polizei mit. Strafrechtlich relevant sei der Facebook-Eintrag allerdings nicht, betonte ein Sprecher. Innensenator Frank Henkel (CDU) hatte zunächst angekündigt, „rechtliche Konsequenzen“ zu prüfen. Der vermeintliche Todesfall hatte einen Tag lang Polizei, Feuerwehr und Behörden beschäftigt. In allen Notaufnahmen der Stadt fahndeten sie vergeblich nach einem toten Flüchtling.

Zu möglichen Motiven von Dirk V., der bei dem Bürgerbündnis „Moabit hilft“ aktiv ist, äußerten sich die Ermittler bisher nicht. Es kursierte aber am Donnerstag eine angebliche Entschuldigung von V. auf Facebook, in der er von einer Feier mit syrischen Freunden spricht: es sei „ziemlich viel Alkohol“ im Spiel gewesen, zudem habe ihn sein ehrenamtliches Engagement „an die Grenzen der psychischen und auch körperlichen Belastung gebracht“.

„Moabit hilft“ hatte sich am Mittwoch zunächst vor den Ehrenamtlichen gestellt – und einen bald darauf gelöschten Face­book-Eintrag bestätigt, in dem Dirk V. von dem Tod des Flüchtlings spricht: „sitze im Krankenwagen herzstillstand“.

Das „Vertrauensverhältnis“, aus dem heraus man gehandelt habe, fiel der Initiative schließlich auf die Füße: „Wir haben da ,auf Deutsch gesagt, echt Mist gebaut“, sagte eine Sprecherin am Donnerstag. Gründerin Henniges sagte der taz: „Unsere Glaubwürdigkeit ist beschädigt, unsere außenkommunikative Fähigkeit hat einen ganz schönen Riss erhalten.“ In Zukunft wolle man Informationen sehr viel vorsichtiger herausgeben „und mit Fakten untermauern“. Man sei aber auch „stinksauer und enttäuscht“ von V. Dieser setze den „Vertrauensvorschuss“ aufs Spiel, den die Initiative bisher bei den Flüchtlingen, in der Bevölkerung und beim Berliner Senat genossen habe. Dabei gebe es „30,40 HelferInnen, für die ich die Hand ins Feuer lege“, so Henniges.

Senat wie Opposition nahmen die Ehrenamtlichen am Donnerstag allerdings in Schutz. CDU-Sozialsenator Mario Czaja, dessen Behörde das Lageso untersteht, sagte, man wolle auch weiterhin eng mit der Bürger­initiative zusammenarbeiten. „Ich bin nicht der Auffassung, dass man zu Vorverurteilungen oder Allgemeinverurteilungen kommen sollte, wenn eine Person etwas getan hat, das für uns schwer verständlich ist.“

„Die Hauptverantwortung trägt ganz klar nicht ‚Moabit hilft‘, sondern der Senat“, sagte der flüchtlingspolitische Sprecher der Berliner Linksfraktion, Hakan Tas. „Die Ehrenamtlichen übernehmen seit Monaten Aufgaben, die eigentlich eine funktionierende Senatsverwaltung übernehmen müsste.“ Auch seine Grünen-Kollegin Canan Bayram sagte: „Das ist die Schuld eines Einzelnen“ – und kommentierte süffisant in Richtung von Sozial­senator Czaja, dieser müsse zum Glück schon alleine deshalb weiter mit der Initiative zusammenarbeiten, „weil ihm gar keine andere Wahl bleibt“.

Das Lageso sorgt seit dem vergangenen Sommer immer wieder für Schlagzeilen, weil Flüchtlinge tagelang in Warteschlangen ausharren müssen. Inzwischen findet die Erstregistrierung zwar in zwei Außenstellen statt. Doch die Flüchtlinge müssen nach wie vor zum Lageso, um sich Geld auszahlen zu lassen oder um einen Krankenschein zu bekommen. Und auch das funktioniert nur sehr bedingt: Erst Anfang der Woche hatten sich mehrere Heimbetreiber an die Öffentlichkeit gewandt, weil viele Flüchtlinge derzeit wochenlang auf ihre monatlichen Zahlungen warten müssen. Czaja hatte den Bearbeitungsstau in seiner Behörde mit einem ungewöhnlich hohen Krankenstand gerechtfertigt.

„Wir haben da, auf Deutsch gesagt, echt Mist gebaut“

Eine Sprecherin von „Moabit hilft“

Innensenator Henkel indes kritisierte am Donnerstag die Initiative „Moabit hilft“. Zwar habe Dirk V. vor allem „den vielen Ehrenamtlichen“ geschadet, „die in unserer Stadt wichtige Arbeit leisten“. Allerdings schalt der Innensenator in Richtung Initiativen-Gründerin Henniges: „Verantwortung tragen auch diejenigen, die den erfundenen Fall gestern ohne jegliche Grundlage bestätigt haben, darunter die Sprecherin des Bündnisses ‚Moabit hilft‘.“ Wer solche Gerüchte „ungeprüft weiterverbreitet, legt es bewusst darauf an, die Stimmung in unserer Stadt zu vergiften“.

Für einen heftigen Schlagabtausch sorgte der vermeintliche Todesfall auch am Donnerstag im Parlament. Weil die Fraktionschefin der Grünen, Ramona Pop, und der Piraten-Abgeordnete Christopher Lauer am Mittwoch sogleich den Rücktritt von Sozialsenator Czaja gefordert hatten, warf CDU-Vize-Fraktionschef Stefan Evers beiden Oppositionspolitikern vor, sie hätten sich die Darstellung der Initiative ungefragt zu eigen gemacht – nur um Rücktrittsforderungen stellen zu können.

Bayram sagte, dass die Geschichte von V. so leicht geglaubt wurde, müsse auch aus einem anderen Grund zu denken geben: „Das zeigt ganz gut, welche Verhältnisse wir inzwischen am Lageso tatsächlich haben. Jeder kann sich so eine Geschichte leicht vorstellen.“ Gesellschaft und Kultur