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In der Warteschleife

Grenze Nur wer die richtige Nationalität hat, wird von der griechischen Polizei bis zur Grenze vorgelassen. Doch auch dort heißt es warten. Hilfsorganisationen unterstützen die Flüchtlinge. Auch die, die illegal weiterwollen

Aus Idomeni Theodora Mavropoulos

Gemma Gillie sitzt auf der Rückbank eines Kleinbusses der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Pausenlos klingelt das Handy der jungen Frau mit den zum losen Pferdeschwanz gebundenen blonden Haaren. Nein, die Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien sei geschlossen. Ja, etwa 1.000 Flüchtlinge sind momentan in dem Camp vor der Grenze. Wann die Grenze geöffnet wird? Wisse sie nicht. Man bekomme momentan keine Informationen. Die griechische Polizei wisse auch nichts. Vielleicht heute Nachmittag. Nächster Anruf. Ja, sie sei zur Tankstelle unterwegs, 500 Flüchtlinge seien dort momentan stationiert.

Gillie legt ihr Handy neben sich auf den Sitz, wickelt ihren rot-grau karierten Schal fester um den Hals, zieht ihre Mütze in die Stirn. Es ist sehr kalt geworden in den vergangenen Tagen. Nachts sinkt die Temperatur auf unter null Grad. Die Prognosen für die nächsten Nächte: bis zu minus 16 Grad. Auf dem Parkplatz der Tankstelle stehen zwölf Busse, die aus Athen gekommen sind. Sie warten auf die griechische Polizei. Die kontrolliert schon hier die Ausweise der Flüchtlinge – und sortiert nach Nationalität aus. Nur Menschen aus Afghanistan, Syrien und dem Irak werden weiter ins Camp kurz vor dem Grenzübergang gebracht. Sie dürfen die Grenze offiziell passieren – wenn Mazedonien sie lässt. Alle anderen – Pakistaner, Algerier, Marokkaner oder all jene ohne Papiere – müssen wieder zurück nach Athen.

Gillie ist die Koordinatorin der Ärzte ohne Grenzen in Idomeni, dem Grenzort vor Mazedonien. Seit November ist die 28-jährige Schottin vor Ort. „Ich verstehe nicht, warum die Polizei die Menschen nicht im Camp warten lässt“, sagt sie. „Dort gibt es Duschen, Toiletten, Ärzte und Kleidung.“ Auch die Zelte seien größer als hier. Außerdem gebe es im Camp täglich eine warme Mahlzeit, sagt Gillie, während sie sich die weiße Weste mit dem Ärzte-ohne-Grenzen-Schriftzug über ihren Anorak streift.

Der Kleinbus hält an der Tankstelle, die 20 Kilometer vor dem Grenzübergang liegt. Hier dürften die Hilfsorganisationen den Flüchtlingen nur Sand­wiches bringen. „Warme Mahlzeiten dürfen wir nicht hierher liefern – das war der Deal, um die Wäremezelte aufstellen zu dürfen“, erklärt Gillie. Die TankstellenbesitzerInnen wollen auch verdienen. Gillie grüßt ein paar Kinder, die auf der Rasenfläche spielen.

Der 26-jährige Arif Sadat aus Afghanistan steht vor einem der drei weißen Zelte. Seine Frau und seine einjährige Tochter sitzen im Bus und schlafen ein bisschen, denn dort sei es ruhiger und auch warm, sagt er. Sadat sieht zu Boden, dann wieder zum Bus. Seine Augen sind voller Verzweiflung. Er habe nur noch 130 Euro bei sich. „Eben habe ich 400 Gramm Milchpuder für meine Tochter gekauft. 10 Euro kostet eine Dose!“ Sadat steckt seine Hände tief in die Hosentaschen seiner grauen Jeans, schaut wieder zu Boden. „Selbst für eine Tasse heißes Wasser musste ich einen Euro zahlen“, sagt er leise.

25 Tage seien sie jetzt schon unterwegs. Von Afghanistan nach Pakistan, über den Iran in die Türkei und dann über das Meer nach Griechenland. „Für die Flucht haben wir bisher ungefähr 10.500 Euro bezahlt.“ Dafür habe er sein kleines Haus in Afghanistan verkauft. Es musste sein. Die Taliban hätten ihn und seine Familie bedroht, weil er als Übersetzer für die europäischen und US-amerikanischen Koalitionsstreitkräfte gearbeitet habe. Nachdem sein Job beendet war, wollte ihm niemand mehr helfen. Er sei zur amerikanischen, zur italienischen und zu anderen Botschaften gegangen, habe seine Arbeitsverträge der Armee gezeigt. Erfolglos.

So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit seiner Frau und der kleinen Tochter von Schleppern nach Europa bringen zu lassen. Ja, er weiß, alle wollen nach Deutschland. Ihm ist es ganz gleich, in welches Land er mit seiner Familie kommt. „Hauptsache, wir haben ein normales Leben in Frieden“.

Sadat wechselt ein paar Worte mit Boris, einem Mitarbeiter und ebenfalls Koordinator der Ärzte ohne Grenzen. Wann es endlich weitergeht, fragt Sadat. Er macht sich Sorgen, dass seine Frau und seine Tochter bei der Kälte krank werden könnten. Boris weiß darauf auch keine Antwort. Man müsse abwarten. Wann die Mazedonier die Grenze öffnen oder wieder schließen, ist unvorhersehbar. Sadat verabschiedet sich und geht langsam zum Reisebus, um nach seiner Familie zu sehen.

Viele NGOs wollen lieber nicht dabei gesehen werden, wie sie die illegalisierten Menschen unterstützen

Boris, der auch aus Afghanistan stammt, wurde von der US-Armee so genannt und hat diesen Namen beibehalten. Er weiß, wie hart und wie gefährlich das Leben in seiner Heimat ist. „Die meisten Afghanen kommen vom Land“, berichtet er. Sie kommen aus sehr einfachen Verhältnissen. „Manche von ihnen haben noch nie einen echten Zug gesehen“, sagt er.

Boris hatte, genauso wie Sadat, für das westliche Militär gearbeitet. Auch er hätte fast mit dem Leben dafür bezahlt. Doch er konnte im Jahr 2011 seine Heimat verlassen, bekam Asyl in Großbritannien. „Nach einem Trainingsseminar in Großbritannien wurde ich gefragt, ob ich nicht dorthin auswandern möchte.“ In Manchester konnte er dann studieren, ein neues Leben beginnen.

Boris ist in Kabul aufgewachsen. In seiner direkten Nachbarschaft war ein Standort der Ärzte der Welt. Seine Mutter habe ihn dorthin gebracht, als er krank war. „Wir wurden sehr gut behandelt“, erzählt er. „Es war immer mein Traum, etwas von dieser Hilfe, die ich damals bekommen habe, zurückzugeben“, sagt er. Das sei ihm hier jetzt endlich möglich. „Die meisten der Flüchtlinge fragen mich nach der Balkanroute. Was sie beachten müssen. Oder auch, welches europäische Land am besten für sie sei“, berichtet Boris. Viele der Menschen, die hier mit dem Bus aus Athen ankommen, wissen überhaupt nicht, wo sie sich befinden, wie es weitergeht. „Wir versuchen, so gut es geht, Informationen zu beschaffen“, sagt er. Dann wendet er sich wieder einer Flüchtlingsfamilie zu, die ihn umringt.

Gillie läuft über den großen Parkplatz der Tankstelle zurück zum Bus der Ärzte ohne Grenzen. Die Menschen hier seien nervös, weil sie nicht wissen, was mit ihnen geschehe, berichtet sie. Einige der Flüchtlinge, deren Herkunftsländer nicht als gefährdet gelten, setzen sich in den gegenüberliegenden Wald ab. Schwungvoll schiebt sie die Bustür zu. Nächste Station ist die Tankstelle auf der anderen Seite der Autobahn. Dort ist eine ehemalige Häusersiedlung im Wald, die nun als Übernachtungsort von jenen Flüchtlingen genutzt wird, die hier warten, bis Schlepper sie über die Grenze bringen. „Einmal täglich kommen wir mit unserem Ärztewagen hierher, um den Menschen zu helfen, sagt Gillie.

Sie müssten den Bus hinter einem kleinen Haus der Tankstelle parken, damit man ihn von der Straße nicht sehen kann. „Das ist der Deal mit der Polizei“, sagt sie, „dann können uns die Polizisten übersehen“. Gillie springt aus dem Bus und läuft den kleinen Feldweg in den Wald hinein. Dort sitzt eine Gruppe von Männern. Gillie fragt freundlich, woher sie kommen und wie es ihnen geht. Einer der Männer antwortet auf Englisch, dass sie aus Pakistan sind. Für heute Nacht planen sie ihre Flucht über die Grenze nach Mazedonien.

Die Männergruppe geht den Feldweg weiter, der tiefer in den Wald führt. Vor einem der verlassenen Häuser steht ein Kleinbus. Ein junger Mann mit langen Dreadlocks hebt einen großen Kessel aus dem Fahrzeug. Eine junge Frau holt Plastikgeschirr und Besteck aus dem Bus. „Wir unterstützen die Menschen, die von Europa als illegal abgetan und unversorgt zurückgelassen werden“, sagt ein weiterer Mann, der David genannt werden will. Die Gruppe kommt aus alternativen Bewegungen aus Deutschland und den Niederlanden. Ihre echten Namen wollen sie lieber nicht nennen. Zur Zeit sind 35 von ihnen vor Ort.

„Wir haben hier in der Nähe ein Haus angemietet“, erzählt David. Dort würden sie täglich für die Vergessenen kochen. Auch verstecken sie auf der Balkanroute Nahrung, Decken und Kleidung. Hier in Idomeni bekommen die Flüchtlinge einen Flyer, auf dem die Punkte eingetragen sind. Denn viele der NGOs wollen lieber nicht dabei gesehen werden, wie sie die illegalisierten Menschen unterstützen.

Gekauft werden die Nahrungsmittel hauptsächlich von lokalen AnbieterInnen, berichtet David weiter. Finanziert werde alles über private Spenden. Das laufe ganz gut. Auch bringen sie immer wieder Kleiderspenden, die hier im Wald, aber auch unten im offiziellen Camp verteilt werden. Dort wurden den alternativen Helfern ein Zelt von den Ärzten ohne Grenzen zur Verfügung gestellt, berichtet David. Die Zusammenarbeit mit der Hilfsorganisation laufe gut. „Wenn wir Decken oder ärztliche Hilfe für die Menschen benötigen, dann bekommen wir das“, sagt er.

Gillie steigt wieder in den Kleinbus ein. Sie wird ins Camp fahren. Vielleicht machen die Grenzen heute Mittag wieder auf. Vielleicht auch nicht. Alles sei hier momentan in der Schwebe. „Ich hätte mir bis vor Kurzem nicht vorstellen können, für eine humanitäre Hilfsorganisation in Europa vor Ort zu sein“, sagt Gillie, die früher in Tansania gearbeitet hat. Sie schüttelt den Kopf. Die europäische Politik kreiere diese Situation und sei verantwortlich für das, was hier geschieht. „Es ist bizarr, dass so viele humanitäre Hilfsorganisation und Freiwillige hier in einem Mitgliedsland der EU eingreifen müssen“, sagt sie.

Der Bus fährt am Hotel Hara unweit der Tankstelle vorbei. Gillie zeigt auf das Hotel. Hier sind viele der Schmuggler untergekommen, erzählt sie. Die Schmuggler verstecken sich nicht. Europa schaut zu.

Einen Tag später ruft Gillie an: 49 Busse mit etwa 3.500 Menschen stehen seit der Nacht auf dem Parkplatz der Tankstelle. Die Kapazität der Wärmezelte reicht nicht aus. Zahlreiche Familien mussten im Freien ausharren. Wann die Menschen ins Camp vorgelassen werden ist nicht sicher. Es gibt noch keine Informationen.

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