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Wo die Leere schneller wächst

DEMOGRAFISCHER WANDEL Die Leute altern und ziehen in die Städte, und beides tun sie in Südniedersachsen noch etwas schneller: „2030 –Odyssee im Leerraum“ am Jungen Theater Göttingen

von Jens Fischer

Lebensstil mit Liebe zur Natur, das Land erleben und, ja: genießen – so wird am Kiosk für die derzeitigen Zweitschriften-Verkaufshits geworben. Demografen gilt das Landleben hingegen als aussterbende Lebensform: Die Bevölkerung der kleinen, in die Landschaft geschmiegten Siedlungen wird immer älter und schrumpft zahlenmäßig. Durch die damit sinkenden Steuereinnahmen wird es zunehmend schwieriger, eine funktionierende Infrastruktur sicherzustellen, etwa bei der ärztlichen Versorgung. Bald ist dann der Schulbus der einzige öffentliche Nahverkehr. Geschäfte, Kneipen, Kinos, Schulen schließen. So dass noch weniger Menschen auf dem Land leben wollen; ein Teufelskreis.

Südniedersachsen soll, was diese Entwicklung angeht, dem Rest der Republik gut zehn Jahre voraus sein: So werden Statistiker auf der Bühne des Göttinger Jungen Theaters zitiert. Im Jahr 2000 lebten in den drei Landkreisen eine halbe Million Menschen, für das Jahr 2030 werden nur noch 400.000 prognostiziert. Ganz naiv weitergerechnet – und die aktuelle Zuwanderung außer Acht lassend – wäre die Gegend im Jahr 2155 menschenleer. Auch das sagt einer von der Göttinger Bühne herab. „2030 – Odyssee im Leerraum“, so betiteln folgerichtig der regieführende Intendant Nico Dietrich und Lutz Kessler, ehemals Chefdramaturg am örtlichen Deutschen Theater, ihre „Lecture Performance“: Für den Vorlesungs-Anteil haben sie zehn Wochen lang 24 Experten des demografischen Wandelalltags im Großgöttinger Raum interviewt. Sie werden aber nicht in die Aufführung eingebunden, sondern von Schauspielern dargestellt.

Weißkittel an: Wissenschaftler. Windjacke an: Bauer. Jackett an: Bürgermeister. Dietrich lässt sie reden, viel und größtenteils unwidersprochen. Und immer mit diesem überzeugten Dauergrinsen, als wären es PR-Leute in eigener Sache. Was vielleicht auch daran liegt, dass viele der wirklichen Zitatgeber im Publikum sitzen, bei der Premiere wenigstens. Und dass man den Tod der Dörfer eben nicht feiern, betrauern oder als Kollateralschaden hinnehmen will: Es müsse doch Alternativen dazu geben, ist im Stück etwa zu hören, die vergreisende Region mit immer neuen Altenheimen künstlich am Leben zu erhalten. Wohnraum ist so günstig, zurück in die Zukunft: Leerraum zu Lehrräumen, Dörfer zu Experimentierfeldern.

„2030“ ist ein Pilotprojekt des Programms „Trafo – Modelle für Kultur im Wandel“. Mit 13,5 Millionen Euro fütterte die Kulturstiftung des Bundes den Fördertopf, um im Oderbruch, in Teilen der Saarpfalz, auf der Schwäbischen Alb und eben in Südniedersachsen die Kulturversorgung in strukturschwachen Regionen beispielhaft zu retten. „Noch existierende Einrichtungen sollen in die Zukunft transformiert werden, ein graswurzelmäßiger, evolutionärer Schritt“, erklärt Dietrich. Drei Millionen Euro an Trafo-Mitteln teilen sich nun Seesen (für das Projekt „Jacobson-Haus als neues Zentrum für Kultur- und Bildung“), Clausthal-Zellerfeld, wo das Oberharzer Bergwerksmuseum mit seinen 725 Außenstellen neu aufgestellt wird, und Osterode.

Dort kooperiert die Bibliothek für drei Jahre mit dem Jungen Theater Göttingen: Ein Erzählcafé mit Flüchtlingen organisiert man, baut ein Archiv ihrer Geschichten auf und will das am Ende auch noch medialisieren für eine virtuelle Stadtführung per Tablet. Alle Vereine des Harz-Ortes sollen obendrein an einer gemeinsamen Stadtraumperformance mitwirken. Dem Theater geht es dabei auch um die eigene Existenzsicherung: Dietrich suchte nach Alleinstellungsmerkmalen – und entschied sich, in den ländlichen Raum hineinzuwirken.

Mit den mal melancholischen, mal optimistischen O-Tönen berichten jetzt aber erst mal die Schauspieler aus den Klein- und Kleinstzentren. Viele seien Schlafdörfer der Pendler, daher tagsüber meist menschenleer. Jenes eine 720-Seelen-Dorf beispielsweise, von dem da ein Landwirt erzählt: etliche Läden gab es da, Kneipen, das Raiffeisenlager und eine Bank – alles dicht, man sei froh über einen Geldautomaten, Pferdedoktor und „noch so’n Kiosk, der ein paar Tage vormittags offen hat“. Und in der Landwirtschaft fehlt es längst an Jobs: „Wo früher 100 Leute gearbeitet haben, arbeiten jetzt zwei, drei. Da ist ja Arbeitskraft massiv durch die Technisierung verdrängt worden.“

Dem Theater geht es auch um die eigene Existenzsicherung

Stimmt auch etwas positiv? Die Bewohner haben sich zusammengesetzt und in eine Biogasanlage investiert. Nachhaltig sei man nun autark von Gas und Öl, jeder Haushalt spare 800 Euro pro Jahr. Als dann auch Windräder gebaut werden sollten, zerstritt sich das Dorf aber wieder – und zwar nachhaltig.

Von einem weiteren Scheitern berichtet der Bürgermeister von Osterode: Damit Sportvereine und Schützenfest nicht zu Tode schrumpfen, schlug er Kooperationen vor. Auf der Bühne wenden sich die „Traditionalisten“, Schauspieler mit Jägerhut auf dem Kopf, empört ab. Also müssen Neubürger her. Und Touristen. Und Investoren. Und Flüchtlinge. Und Niederländer: Die nämlich hätten Angst vor Überschwemmungen als Folge des Klimawandels. „Inzwischen gehen schon Städte aus Südniedersachsen mit einem ganzen Marketingkoffer nach Utrecht auf ne Auswanderungsmesse“, sagt Osterodes Bürgermeister(-Darsteller).

Die Wissenschaftler, weißer Kittel, Sie erinnern sich?, fordern derweil Akteursnetzwerke, die gemeinwohlprägende Daseinsvorsorge-Projekte realisieren sollen. Da werden also vor allem Sprachoberflächen präsentiert, Stimmen und Stimmungen, ohne so recht Stellung zu beziehen. Demografischer Wandel als Frontalunterricht, nicht so sehr Theater. Besser könnte „2030“ an den Orten funktionieren, aus denen die Texte stammen: Zehn Termine sind vorgesehen, auf ehemaligen Tanzdielen, in Kirchen und dem –geschlossenen –Kino in Clausthal-Zellerfeld.

nächste Termine: heute, 9. 2., 3. 3., jeweils 20 Uhr, Junges Theater Göttingen

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