Bewusst übertreiben

DragKing-Workshop Dragqueens kennt jeder! Aber Dragkings?In einem Workshop lernen Frauen, wie Männer auszusehenund sich wie solche zu verhalten – und stellen Stereotype infrage

von Lou Zucker

Der selbst gebastelte Penis ist etwas klein geraten und sitzt nicht richtig zwischen den zwei Unterhosen. Der Bartkleber spannt auf der Haut. Es ist verdammt heiß in Jackett und Hut zwischen 30 anderen Leuten, die zu Schlagermusik herumwuseln und mit Schminke, Haargel und Kunst-Bartstoppeln hantieren. Isabelle starrt mich mit offenem Mund an. „Oh mein Gott, du siehst aus wie Norbert Pfeiffer!“, ruft sie, „ein früherer Klassenkamerad von mir. Er spielt Cello und studiert Physik.“ Perfekt. Ich erinnere jemanden an einen echten Mann, den sie kennt! Ich heiße allerdings Joshua Janssen, promoviere in Philosophie und höre mich sehr gerne selbst reden, während ich in meinen Seminaren vor den Studierenden auf und ab schreite und ihnen Hegels Dialektik erkläre. Das zumindest ist meine Dragking-Persönlichkeit.

Drag bedeutet, einer der zahlreichen Entstehungsgeschichten zufolge, „dressed resembling a girl“ oder auch „dressed resembling a guy“ (“angezogen wie ein Mädchen/Typ“). Spätestens seit der US-amerikanischen Castingshow „RuPaul’s Drag Race“ haben Dragqueens endgültig ihren Platz im öffentlichen Bewusstsein.

Mit ihrem hyperaufwendigen Make-up, den schwindelerregenden Highheels und den extravaganten Outfits geht es vielen Dragqueens nicht darum, in der Öffentlichkeit als Frau wahrgenommen zu werden. Drag ist vielmehr eine eigene Kunstform. Es zu praktizieren hat daher auch nicht unbedingt etwas damit zu tun, transgender oder transsexuell zu sein. Die meisten Dragqueens definieren sich in ihrem Alltag als Männer. Es gibt aber Menschen aller Geschlechter, auch Frauen, die als Dragqueens auftreten.

Dragkings sind längstnoch nicht so bekannt

Dragkings dagegen sind noch weitestgehend unbekannt. Dabei begannen lesbische Frauen in England und den USA bereits Anfang der 1990er Jahre damit, überzogene Formen von Männlichkeit darzustellen. In Berlin gründete sich im Jahr 2000 die legendäre Dragking-Performancecrew „Kingz of Berlin“, die nach langer Pause im November mit alten Boygroup-Hits ihr Jubiläum feierte.

Verena Läcke praktiziert Drag seit 2011, als King und als Queen. Der Dragking-Workshop, den sie heute in Berlin für Stipendiat*innen der Heinrich-Böll-Stiftung leitet, ist ihr 20. „Ich wollte wissen, ob Menschen tatsächlich anders auf mich reagieren, wenn sie glauben, ich sei ein Mann“, erzählt sie über ihre Motivation, mit Drag anzufangen. Schnell stellte sie fest, dass dazu mehr gehört, als sich einfach nur männlich konnotierte Kleidung anzuziehen.

Gleich zu Anfang warnt uns die Studentin der Politik-, Gesellschafts- und Rechtswissenschaften, dass wir viel mit Stereotypen hantieren werden. Weil die meisten von uns in der Regel als Frauen gesehen werden, müssen wir übertreiben, damit die Männlichkeit, die wir darstellen wollen, wirklich ankommt. Da ist es am einfachsten, sich erst einmal an Macho-Klischees zu orientieren.

Es geht los mit Bartkunde und Penisbasteln

Dragking-Workshop mit Diane Torr: Seit über 20 Jahren vermittelt die Pionierin des Kinging aus New York in ihrem „Man for a Day Workshop“ das Aneignen männlicher Geschlechterrollen. Das nächste Mal in Berlin am 6./7. Februar. Anmeldeschluss: 23. Januar. Infos: dianetorr.com.

„RuPaul‘s Drag Race“– Screening: Moderiert von Pansy, Berlins wohl berühmtester Dragqueen, wird jeden Dienstag im Südblock die US-amerikanischen Dragqueen-Castingshow auf großer Leinwand gezeigt. Danach folgen Lipsinc-Liveauftritte Berliner Queens. Admiralstraße 1–2, 22 Uhr, Einlass: 21 Uhr.

Alternative Drag-Show mit Olympia Bukkakis: Jeden Freitag in der gemütlichen Neuköllner queer-Bar the Club, Biebricher Straße 14, 22.30 Uhr.

Trash Deluxe:Die queere Drag und Burlesque Open Stage für Anfänger*innen und Fortgeschrittene findet alle zwei Monate an einem Samstag statt. Das Motto für den 9. Januar: „In 80 Fummeln um die Welt“. Ballhaus, Chausseestraße 102. (lz)

Verena Läcke beginnt mit ihrem Lieblingsthema: Bartkunde. Dann zeigt sie uns, wie wir uns einen Bartschatten schminken können, um unser Gesicht kantiger aussehen zu lassen, wie wir unsere Brüste abbinden oder sie durch einen falschen Bauch kaschieren, wie wir uns einen Penis basteln können, für ein authentisches Gefühl beim Gehen, und was wir mit langen Haaren anstellen können. Stolz zeigt uns Läcke ein Foto von einer früheren Teilnehmerin, deren blonde Haare ihr bis zum Po reichten. Auf dem Foto ist ein cooler, gut aussehender junger Typ mit einer Mütze über seinem Iro zu sehen. Challenge accepted!

Wir wühlen uns durch Westen, Hüte und Trainingsjacken, stopfen Watte in Kondome oder schnippeln Kunsthaar für den Dreitagebart. Einige Teilnehmende wissen schon genau, was für ein Dragking sie sein wollen: ein Independent-Filmemacher, ein Antifa-Macker, ein jugendlicher HipHopper. Linda möchte gar keine Rolle spielen, sondern einfach ausprobieren, ob sie neue Seiten an sich für ihren Alltag entdeckt. Eine Frau namens Ente möchte sich so geschlechtlich uneindeutig wie möglich stylen und einen „lang anhaltenden Eindruck der Verwirrung“ hinterlassen. Als alle gestylt sind, versammeln sich die Kings im Kreis um Verena, die sich in der Zwischenzeit sehr überzeugend in „Rainer Asbach Flecken“ verwandelt hat. „Du“, sagt sie zu mir. „Geh mal.“

Die ersten Schritteals Mann sind – verstörend

Ich gehe nervös einmal eine Runde in der Mitte des Kreises. Dabei gebe ich mir Mühe, meine Schritte so bestimmt wie möglich zu setzen, meine Schultern breit wirken zu lassen, den Oberkörper steif zu halten, unwirsch zu gucken. Es herrscht Stille, alle beobachten mich und ich bin froh, als ich wieder an meinem Platz stehe. „Gelaufen bist du schon ganz gut“, urteilt Verena, „aber du bist den Blicken ausgewichen. Es ist wie bei Hunden: Wenn du dem Blick standhältst, bist du das Alphamännchen.“

Wir sollen alle eine Runde im Raum umhergehen. „Ihr weicht einander aus“, stellt Verena fest. „Es gibt Studien, dass Frauen dazu neigen, Männern auf der Straße auszuweichen. Jetzt noch mal, nicht ausweichen, nicht lächeln, nicht entschuldigen! Ihr habt das Recht, da zu stehen, wo ihr steht, warum solltet ihr euch entschuldigen, wenn jemand in euch reinläuft?“ Wir sollen uns vorstellen, dass alles, was wir anfassen oder betreten, sei es der Boden oder ein Stuhl, uns gehört. Und dass wir den anderen überlegen sind. „Überzieht in eurer Vorstellung das, was ihr darstellen wollt, dann kommt vielleicht die Hälfte davon rüber“, erklärt sie den geschockten Dragkings.

Die Stimmung im Raum ist spürbar gedrückt und angespannt. „Mich ekelt mein Drag-Charakter gerade richtig an“, sagt Linda. Ich kann sie verstehen. Mir ist klar, dass nicht alle Männer Machos sind und dass wir gerade versuchen zu übertreiben. Doch allein der Gedanke, dass ein Teil der Gesellschaft vielleicht wirklich so oder so ähnlich durchs Leben geht, wie wir es gerade üben – und das auch noch für selbstverständlich hält – ist verstörend. Ähnlich verstörend, wie festzustellen, dass ich tatsächlich ständig auf der Straße ausweiche und zur Seite rücke, wenn ein Mann in der U-Bahn breitbeinig dasitzt. Raum einnehmen ist für mich keine Selbstverständlichkeit. „Ich genieße es gerade eigentlich, einmal dieses Gefühl von Macht zu erleben“, sagt Nathalie.

Vor (oben) und nach dem Dragking-Workshop „She’s the man“ von Stephanie Weber (Infos unter pas-weber.de). Hier im Bild ist Weber selbst ganz rechts zu sehen Fotos: Paula Altmann

Die Rolle als Mannerfordert Konzentration

Dreißig Dragkings und Tunten kehren gemeinsam im Falafel-Imbiss ein. „Bitte schön, junger Mann“, sagt der Herr, der dort arbeitet, mit einem Grinsen, als er mir meinen Falafel reicht. Trotzdem bin ich etwas nervös, als ich mit der U-Bahn nach Hause fahre. Die ganze Zeit über konzentriere ich mich, meine Rolle einzuhalten, und hoffe, dass mich niemand „entlarvt“.

Überrascht stelle ich fest, dass kein Mensch mir Beachtung schenkt. Weder die Riege von Macho-Kerlen, die mir gegenübersitzt, noch die Betrunkenen am Kottbusser Tor. In meinem femininen Alltagsoutfit hätte ich sicher darauf geachtet, ihren Blicken nicht zu begegnen, ihre Aufmerksamkeit nicht auf mich zu lenken. Es dauert ein paar Stationen, bis ich realisiere, dass ich als Dragking für die meisten Männer um mich herum wie Luft bin. Ein sehr entspanntes Gefühl.

Am nächsten Tag ist auf einmal keine Bewegung mehr normal. Jedes Mal, wenn ichmit übereinandergeschlagenen Beinen dasitze, denke ich: Was für eine feminine Pose! Bin ich jetzt wieder mein natürliches Ich? Oder spiele ich heute auch eine Rolle, nur eben eine andere, vertrautere? Es ist, wie die berühmte Dragqueen RuPaul gesagt hat: „We are born naked and the rest is drag.“

Die Autorin hat zum ersten Mal an einem professionellen Drag­king-Workshop teilgenommen.