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Vom anderen lernen

Projekt Sechs palästinensische SozialarbeiterInnen aus Israel und Palästina besuchen die Streetworker und Jugendeinrichtungen des Berliner Straßensozialarbeitvereins Outreach. Das Ziel der Reise: ein deutsch-palästinensischer Jugendaustausch

von Alke Wierth

Manchmal sitzen sie nur ganz still da und gucken. Wie jetzt, in dieser Turnhalle ganz im Berliner Nordosten. Wie hypnotisiert sitzen Jehan Sarhan, Dyala Abuzarour und Manoa Abumoch aus dem Westjordanland auf einer hölzernen Turnhallenbank und schauen Berliner Jugendlichen dabei zu, wie sie in Rückwärtssaltos durch die Luft wirbeln, sich abenteuerlich schnell auf dem Kopf drehen. Nicht, dass es das dort, wo die jungen Frauen herkommen, nicht gäbe: Auch in den Jugendeinrichtungen in Nablus und Ramallah, wo die palästinensischen Sozialarbeiterinnen arbeiten, gehören HipHop-Workshops für Jugendliche zum Programm. Aber wie hier Jungen und Mädchen, junge Männer und Frauen, zusammen trainieren, „ohne sich auch nur anzuschauen“, beeindruckt die 25-jährige Jehan Sarhan: „Dafür ist unsere Gesellschaft noch nicht reif.“

Mahmoud Shehadeh, Sozialarbeiter und Capoeira-Trainer in Ostjerusalem, bewundert vor allem die Hallenausstattung: die riesigen dicken Matten, die die Jugendlichen nach misslungenen Saltos auffangen, die ledergepolsterten Holzkästen, die sie zum Parcours-Training aufgebaut haben. Er müsse die Übungsräume für seine Capoeiragruppen teuer mieten: Die israelische Stadtverwaltung unterstütze selbst organisierte Sozialarbeit für palästinensische Jugendliche kaum. Den 33-jährigen Palästinenser, der als jordanischer Staatsbürger in Israel lebt, überrascht auch, wie freundlich die gut 50 Jugendlichen in der Halle, die jeden Samstag jedem offen steht, miteinander umgehen, beaufsichtigt von nur einer Sozialarbeiterin. Ja, es gebe Regeln, erklärt die: Die handelten die Jugendlichen unter sich aus. „Die, die schon länger kommen, helfen den Neuen, sich einzufügen.“ Auch wenn die jungen HipHopperInnen an Wettkämpfen teilnehmen, organisierten sie das selbst.

Undenkbar in ihrer Arbeit, sind sich die sechs PalästinenserInnen einig: Das gebe Ärger unter den Jugendlichen. Vielleicht, weil zu viel Druck auf ihnen laste: das Leben unter Besatzung im Westjordanland, die alltägliche Diskriminierung als PalästinenserIn in Israel.

Ashraf Taha, 40, Sozialarbeiter in Ramallah, fast das Staunen seiner KollegInnen zusammen. „Hier können die Jugendlichen machen, wozu sie Lust haben“, sagt er. „Sie können leben, wie sie in ihrem Alter leben sollten: frei.“

Tahas Satz ist ein ganz besonders wichtiger bei dem einwöchigen Besuch der palästinensischen SozialarbeiterInnen in Berlin. Er fasst nicht nur zusammen, was den Gästen hier immer wieder auffällt. Er ist zudem die Kehrseite dessen, was den jetzigen GastgeberInnen bei ihrer Reise ins Westjordanland vor sechs Monaten ins Auge fiel. Jugendliche in Deutschland hätten „alle Möglichkeiten“, sagte der Neuköllner Sozialarbeiter Nabil El Moussa danach: „Aber viele hängen nur rum.“ In Palästina dagegen hätten junge Leute kaum Chancen. „Aber sie nutzen jede noch so kleine. In Palästina bauen sie auf Bildung. Bei uns bauen sie auf nichts.“

Zehn Tage war El Moussa damals mit neun weiteren KollegInnen des Berliner Straßensozialarbeit-Vereins Outreach im Juni im Westjordanland und in Israel (taz berichtete). Nun sind eine Woche lang sechs palästinensische SozialarbeiterInnen aus Ostjerusalem und Nazareth in Israel, aus Ramallah und Nablus in Palästina zu Besuch in Berlin. Das Ziel beider Reisen: ein deutsch-palästinensischer Jugendaustausch.

Schon seit zehn Jahren pflegt Outreach einen Jugendaustausch mit Israel. „Aber wir arbeiten vor allem im Westen Berlins viel mit Jugendlichen, die aus palästinensischen Flüchtlingsfamilien stammen“, sagt Streetworkerin Grete Erckmann von Outreach, die mit ihrem Kollegen Josef Soueidan die Reisen organisiert hat. Sie, aber auch andere Berliner Jugendliche sollen ein Bild vom heutigen Leben in der Heimat bekommen, die die jungen DeutschpalästinenserInnen nur aus den Erzählungen der Eltern und Großeltern und aus – meist von Gewalt berichtenden – Fernsehbildern kennen.

Zivilgesellschaft in dem besetzten Land sollen sie kennenlernen, ein Leben unter Bedingungen, die Jugendlichen hier wohl völlig inakzeptabel vorkämen. Ständige Kontrollen durch schwer bewaffnete israelische SoldatInnen, willkürliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, getrennte Straßennetze für Palästinenser und israelische Siedler, eine Arbeitslosigkeit, die selbst jungen AkademikerInnen kaum Hoffnung lässt, dass ihr Streben nach Bildung sich lohnt.

„In Deutschland können die Jugend­lichen machen, wozu sie Lust haben. Sie können leben, wie sie in ihrem Alter leben sollten: frei“

Ashraf Taha, Sozialarbeiter in Ramallah

Eine schwierige Reise, die sie plant, weiß Grete Erckmann, hart für die Berliner Jugendlichen, vor allem die palästinensischer Herkunft, herausfordernd auch für die begleitenden SozialarbeiterInnen. Die haben bei der Reise im Juni bereits eigene Erfahrungen mit Repressalien gemacht: Neun Stunden lang wurden drei der Berliner Streetworker, alle drei Deutsche palästinensischer Herkunft, am Flughafen in Tel Aviv festgehalten und verhört, bevor sie einreisen durften. Für zwei war es der erste Besuch in der Heimat ihrer Familien.

Und was wird der Gegenbesuch mit den palästinensischen Jugendlichen machen? Ja, in der Jugendeinrichtung in Nablus, wo Dyala Abuzarour und Manoa Abumoch arbeiten, gibt es auch HipHop. Vor allem aber gibt es Bildungsangebote: Hoch­arabisch, Englisch, Deutsch, Mathe, Recycling, Naturschutz, Kunst, Theater, Politik, Bürgerrechte, Demokratie. Taha und Sarhan aus Ramallah im Westjordanland arbeiten mit Emad Badra aus Nazareth in Israel zusammen. Im Sommer veranstalten sie ein internationales Jugendcamp in einem Dorf der Westbank. Die TeilnehmerInnen helfen in der Landwirtschaft. Badras Jugendliche, Palästinenser israelischer Staatsbürgerschaft, besuchen krebskranke Kinder aus Gaza, die in israelischen Krankenhäusern behandelt werden. Da deren Familien nur mit teuren Genehmigungen für je einen Tag nach Israel einreisen dürfen, sterben die Kinder dort oft ohne ihre Angehörigen. Über die hohe Bedeutung von Bildung, das verantwortungsvolle ehrenamtliche Engagement der jungen PalästinenserInnen hatten die Berliner Streetworker bei ihrer Reise oft fast neidvoll gestaunt.

Geplant ist, im Sommer 2016 erst Berliner Jugendliche nach Ostjerusalem, Nazareth und ins Westjordanland zu bringen. Sie sollen auch an dem Sommercamp teilnehmen. Danach sollen dann palästinensische Jugendliche zum Gegenbesuch nach Berlin kommen. Was wird es in ihnen auslösen, die so ganz andere Berliner Luft zu schnuppern? „Sie wissen dank Fernsehen und Facebook, dass Jugendliche anderswo ganz anders leben“, sagt Ashraf Taha. Doch das selbst zu erleben und dann zurückzumüssen in die Enge, die Unfreiheit? Der sonst so wortgewandte Taha blickt zu Boden.

Es sind die jungen palästinensischen Frauen, die antworten: „Ermutigung, Hoffnung“ verspreche sie sich für ihre Jugendlichen von dem Besuch in Berlin, sagt Dyala Abuzarour. „Sie sollen die Motivation mitnehmen, selbst auch für die Anerkennung ihrer Bedürfnisse, für ihre Freiheiten als Jugendliche zu kämpfen.

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