piwik no script img

„Eine Kette schöner Erlebnisse“

Weihnachtsbräuche Die ersten Adventskalender handelten von der Bibel, die der Nazizeit vom Krieg. Heute diktieren oft Pralinen- und Kosmetikmarken den Inhalt

Rarität: Hamburger Weihnachtsuhr von 1902  Foto: Husum Verlag/Weihnachtshaus

Interview Petra Schellen

taz: Frau Paulsen, wer hat den Adventskalender erfunden?

Alix Paulsen: Offiziell wurde der erste Adventskalender, wie wir ihn kennen, um 1900 herum erfunden. Ich vermute aber, dass die Idee, Kindern die Zeit vor Weihnachten zu verkürzen, älter ist. Es wird sicher schon Anfang des 19. Jahrhunderts Mütter gegeben haben, die ihren Kindern diese Wartezeit erträglicher machten.

Auf welche Art?

Indem sie zum Beispiel Kreidestriche an die Tür malten, von denen die Kinder täglich einen wegwischten. Andere haben Plätzchen auf eine Unterlage gelegt, von denen die Kinder jeden Tag ein Stück nehmen durften.

Hatte auch die Kirche Adventskalender, oder galt das als „heidnisch“?

Nein, gar nicht. Da wurde zum Beispiel eine Krippe mit Strohhalmen gefüllt, von denen jeder für ein Gebet stand, das dann gesprochen werden musste. Die Krippe wurde quasi mit guten Gedanken und Gebeten befüllt.

Das klingt nach Arbeit.

Ja. Im Rauhen Haus in Hamburg zum Beispiel – wo auch der Adventskranz erfunden wurde – hängte man täglich Bilder an die Wand. In anderen kirchlichen Einrichtungen wurden kleine Bilder mit biblischen Darstellungen und christlichen Losungen an den Adventsbaum gehängt. Die mussten die Kinder auswendig lernen.

Und der erste käufliche Adventskalender ...

... war, im Jahr 1902, eine Weihnachtsuhr aus Pappe mit den Zahlen 13 bis 24 auf dem Zifferblatt. In jedem Tages-Kästchen stand ein Weihnachtslied-Anfang. Und schon 1903 gab der Münchner Reichhold & Lang Verlag einen „richtigen“ Adventskalender heraus. Er bestand aus einem Bogen mit Bildern zum Ausschneiden und einem weiteren mit Feldern zum Aufkleben; die Kinder durften an jedem Tag ein Bild ausschneiden und aufkleben. Dieser Kalender begann am 6.12., also am Nikolaustag.

Warum?

Weil der 1. Advent nicht immer mit dem 1. Dezember zusammenfällt. Der 6. Dezember dagegen liegt auf jeden Fall in der Adventszeit, da war man also auf der sicheren Seite. Heute ist der Advents- ja eher ein Dezember-Kalender. Viele historische Adventskalender beginnen daher am 6. Dezember.

Der früher ohnehin Bescherungstag war, bis Reformator Martin Luther ihn 1535 auf Weihnachten verlegte.

Ja. Und da am 6. Dezember früher auch das Schuljahr endete, kam der Nikolaus – wie noch heute oft in Bayern – an diesem Tag in die Schulen, um zu belohnen oder zu strafen. Überhaupt ist München heimliche Hauptstadt der Adventskalender; bis heute sitzen dort große Adventskalender-Verlage. Die ersten Kalender mit Türchen gab es dann 1920, die ersten Schoko-Kalender in den 1930er-Jahren.

Und wie sahen die Adventskalender der Nazizeit aus?

Da gab es nur einen: das vom NSDAP-Verlag Franz Eher edierte Kalenderbuch, das „Vorweihnachten“ hieß und als Massenprodukt vertrieben wurde. Christliche Adventskalender durften nicht mehr produziert werden. Der NS-Kalender enthielt keinerlei christliche Symbolik, sondern nordische Motive. Und aus den abgedruckten „Weihnachtsliedern“ hatte man jeden Hinweis auf Christi Geburt gestrichen. Auch Engel kamen nicht vor.

Stattdessen gab es Bastelanleitungen für Baumschmuck mit Runen- und Sonnenrad-Motiven.

Ja. Das sind ja eigentlich uralte skandinavische Motive, die die Nazis für ihre völkische Ideologie instrumentalisiert haben.

Enthielt der NS-Kalender keinen Hinweis auf den Zweiten Weltkrieg? Immerhin feierten die meisten Kinder Weihnachten ohne den Vater, der als Soldat an der Front war.

In der Erstauflage von 1940 waren oberhalb des Tannenbaums die Frontgebiete aufgezählt. In den Nachfolge-Auflagen von 1942 und 1943 – die Niederlage der Deutschen zeichnete sich ab – kam der Frontverlauf allerdings nicht mehr vor.

Und wie ging man mit den vom Tode bedrohten Vater um?

Der wurde in dem Kalender als markiger, schwer bewaffneter Soldat überhöht, der in der Ferne den Feinden trotzt.

Welche Adventskalender gab es nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR?

privat
Alix Paulsen

58, Mit-Verlegerin im Husum-Verlag, hat vor acht Jahren das Weihnachtshaus Husum gegründet und dessen Sammlung aufgebaut.

Auch da hat man aus ideologischen Gründen christliche Motive eliminiert. Da wurden Engel-Druckvorlagen zu Kindern umgewidmet, Engelsflügel übermalt. Außerdem wurde DDR-Alltag gezeigt – eine Kindergartengruppe oder ein Hochhaus oder eine Rakete zum Beispiel.

Heute sind hinter den Kalenderfenstern oft Bilder von Spielzeug oder verschneiten Städten. Wie viele Adventskalender zeigen noch biblische Motive?

Das ist nur noch ein Bruchteil. Inzwischen ist das ein Riesen-Markt. Und viele Adventskalender werden inzwischen für Erwachsene gemacht.

Und der Kinder-Schoko-Kalender stirbt aus?

Nein, aber das ist eher für den flüchtigen Genuss. Interessanter sind Adventskalender, die ganze Spiel- oder Bausätze großer Firmen enthalten. Oder Figurenkalender, die zu Weihnachten schließlich die komplette Krippe darstellen. Außerdem gibt es Rezept-, Nagellack-, Müsli- und Teebeutelkalender ...

Seit wann gibt es Adventskalender für Erwachsene?

Vielleicht seit den 1980er-Jahren. Das hat sicher auch damit zu tun, dass es immer mehr Singles gibt, die die Vorweihnachtszeit auch ohne eigene Familie zelebrieren wollen. Irgendwann hat man sie – wie auch die Senioren – als Adressaten von Adventskalendern zum Beispiel mit kurzen literarischen Texten oder Denksport-Aufgaben entdeckt.

Geselliger sind da die „lebendigen Adventskalender“.

Ja, die gibt es vor allem auf den Dörfern. Da trifft man sich jeden Abend vor einem anderen Haus und bekommt etwas angeboten oder vorgelesen, man singt – je nachdem, wie die jeweiligen Bewohner den Abend gestalten. Man begeht also in einem gewissen Kreis die Adventszeit gemeinsam und sammelt eine Kette besonderer Erlebnisse.

Weihnachtshaus Husum (Westerende 46) mit Dauerausstellung, Weihnachtsladen sowie der Sonderausstellung „Lieber guter Weihnachtsmann“ (bis 10.1.): Geöffnet täglich 11 bis 17 Uhr. Am 24. und 31.12. bis 13 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen