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Auf der Suche nach der Schuld

Berlin In der Hauptstadt der Raucher, Stehpinkler, Fahrradrowdies, Döneresser, Fremd- und Berghaingänger. Wenn es die Schuld gibt, muss sie hier zu finden sein

9.15 Uhr, LaGeSo Berlin. „Schuld? Das geht jetzt nicht, da brauchen Sie eine Genehmigung für!“, sagt ein Mann vom Sicherheitsdienst. Eiskalter Wind streicht über das Gelände des Landesamts für Gesundheit und Soziales. Flüchtlinge liegen auf Pappe gebreitet in den Ecken der Gebäude. Eine ältere Frau verrichtet ihre Notdurft auf einem Grünstreifen. Kinder laufen ohne Jacke und feste Schuhe durch den Matsch. Ein vollbesetzter Mannschaftswagen der Polizei steht neben den Wartenden. Zaghaftes Anklopfen. Das Fenster wird heruntergekurbelt, interessierte Gesichter schauen heraus. „Guten Tag, wir sind auf der Suche nach der Schuld“ – „Die gibt es hier nicht!“, das Fenster wird wieder hochgekurbelt, sonst wird es zu kalt im Wagen. Die Flüchtlinge frieren weiter in der Reihe. Sie warten auf Kleidung, eine Zahnbürste, Shampoo. Ehrenamtliche HelferInnen wuseln umher, versuchen den Überblick zu behalten. „Warum helfen Sie hier?“ – „Weil ich mich sonst schuldig fühlen würde.“ Ein paar Meter weiter steht ein metallenes Absperrgitter, das den Eingang zur Erst­registrierung blockiert, davor uniformierte Beamte. „Können wir hier die Schuld finden?“ – „Frau Schuld? Arbeitet hier nicht!“.

11.12 Uhr, Checkpoint Charlie. Touristenmagnet heute, Alliiertenkontrollpunkt damals. Neben der Retro-Bretterbude steht ein blinkender Weihnachtsbaum. Disneyland-Atmosphäre. Wo früher Beamte auf DDR-Flüchtlinge schossen, schießen heute TouristInnen Erinnerungsfotos. Drei Euro kostet das Bild mit den Karnevalssoldaten. Ist einer von ihnen schuldig? „Ich verbrauche immer das Toilettenpapier in meiner WG.“ Neben einem Souvenirladen erklärt ein Vater um die vierzig seinen Kindern, dass Deutschland einmal getrennt war. „Meine Schuld ist, dass ich lebe. Würde ich das nicht tun, wären mir viele Probleme erspart geblieben“, sagt er und zeigt auf seine Kinder.

13.01 Uhr, Reichstag. Vor dem Haupteingang bauen zwei AnhängerInnen der Reichsbürgerbewegung seelenruhig eine Stellwand ab. Deutschland ist immer noch besetzt, wurde in eine GmbH umgewandelt und wird von den USA gesteuert, erfährt man auf dem Plakat. In großen Lettern rufen sie Präsident Putin zur Rettung Deutschlands auf. Für sie ist es ganz einfach: Die Schuld befindet sich hier im Regierungsviertel.

13.45 Uhr, Brandenburger Tor. Eine riesige Gedenkstelle für die Opfer der Anschläge in Frankreich ist hier entstanden. Ein Meer aus Blumensträußen, Gedenkkränzen und Kerzen. Einige TouristInnen knipsen Selfies. Schuldzuweisungen fehlen auf den Briefen und Postern allerdings. Trauer und Mitgefühl sind wichtiger.

14.54 Uhr, Oranienburger Straße. Einer der traditionellsten unter den Berliner Straßenstrichen präsentiert sich eher verschlafen als verrucht. Die Restaurants sind leer, in einer Boutique wird das Schaufenster dekoriert, eine Kindergartengruppe wartet an der Ampel. In Sichtweite betrügt niemand seine Ehefrau. Das einzig Verdorbene ist der Gestank totfrittierter Pommes. Tagsüber ist der Strich so unschuldig wie jede andere Straße.

18.00 Uhr, McDonald’s Schönhauser Allee. David (19) und Paul (18) sitzen beim Abendessen und genießen fettige Massentierhaltungsburger. Fühlen sie sich schuldig? Die beiden ziehen ertappt die Köpfe ein und gucken verlegen. Aber nur, weil sie normalerweise ausschließlich bei Burger King essen. Heute war es einfach mal Zeit für Abwechslung. „Schuldig fühle ich mich nur meinem Geldbeutel gegenüber“, sagt David. Das Menü kostet zwei Euro mehr als bei der Konkurrenz.

18.15 Uhr, direkt nebenan, Deutsche Bank. Schönhauser Allee, Boulevard des Bösen. „Klar bin ich als Kundin irgendwie schuldig. Ich stehe ja nicht hinter dieser Bank. Aber irgendwo muss ich mein Gehalt abholen. Also lieber nicht drüber nachdenken.“ Blue (24) steckt gerade noch das Portemonnaie ein und schüttelt den Kopf. Ihr Freund Daniel (22) nickt zustimmend. „Man müsste sich da einfach besser informieren …“ Zum Glück gibt es das gute Gewissen auch to go: Ein Obdachloser, der zwischen Bank und Burger­bude auf dem Gehweg sitzt, nimmt freundlich nickend Ablasszahlungen entgegen.

19.00 Uhr, Kirche. Ein Berliner Hinterhof. Die zahlreichen Mülltonnen lassen nicht darauf schließen, dass sich hier ein Gotteshaus befindet. In dem kleinen Laden links daneben werden Souvenirs, Schokoladenweihnachtsmänner und Gottesbücher verkauft. In der weiß-beige gestalteten Kirche findet gerade eine zweisprachige Messe statt, es geht um Versöhnung. Der Pfarrer predigt auf Englisch, eine Frau übersetzt. Hinter ­ihnen an der Wand schmust Jesus auf einer großen Malerei mit Schafen. „Der Mensch ist das Schaf und Jesus ist der Hirte. Schafe fressen den ganzen Tag Gras und hören nur damit auf, wenn der Hirte nach ihnen ruft. Sie können nicht schuldig sein, solange sie zu ihrem Hirten ­beten und stets in den Himmel schauen. Schweine hingegen sind immer schuldig, da sie nur in den Himmel schauen, wenn sie mit zusammengebundenen Füßen zum Schlachter transportiert werden.“ Die göttliche Inspiration für diese Predigt fand der Pfarrer in einem WhatsApp-Video.

22.31 Uhr, zurück im Hostel. Ist die Schuld womöglich doch nicht in der Großstadt Berlin beheimatet sondern in der Provinz? In Rheinland-Pfalz findet sie sich zumindest auf der Landkarte. Der beschauliche Ort „Schuld“ hat 731 EinwohnerInnen und den Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ gewonnen. Zumindest ein Schuldbegriff in Deutschland, der Zukunft hat. Der Versuch eines ­Telefoninterviews mit dem amtierenden Bürgermeister scheitert. Als der Name taz fällt, legt er wortlos auf.

Anna Mayr, Jean Pierre Samedjeu,

Maelene Lindgren, Sarah Neugebauer

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