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Guter schlechter Geschmack

ELECTRONICA Rockt das Haus mit hohem Fieber: Der US-Synthesizer-Tüftler Oneohtrix Point Never und sein verzweifelt behagliches neues Album „Garden of Delete“

VON PHILIPP RHENSIUS

Fieberwahn ist eine von erhöhter Körpertemperatur ausgelöste Beeinträchtigung der Wahrnehmung. Diffuse Erinnerungen vermischen sich mit dem gerade Geträumten, die Realität verwandelt sich in verschwommene Alltagsfiktion. Womöglich kommt dieser Zustand einer adäquaten Beschreibung des neuen Albums des US-Electronica-Musikers Oneohtrix Point Never alias Daniel Lopatin am nächsten.

„Garden of Delete“ ist ausufernd und zurückhaltend, angriffslustig und defensiv, hektisch und meditativ, schäumt über vor Energie und balanciert auf der Schwelle zwischen echtem und falschem Gefühl, Kitsch und Ernsthaftigkeit und vor allem: „gutem“ und „schlechtem“ Geschmack. Denn mit vielen Verweisen auf Chartssound, angenehm sedierenden Billo-Instrumenten und verschmähten Musikstilen wie Trance oder Glamrock widmet sich Lopatin der abgründigen Seite der jüngeren Popkultur. Nicht ohne sie dabei auf unterhaltsame Weise zu exorzieren und, wenn auch subtil, mit seinem Trademark-Sound, etwa den kuscheligen Klangflächen des von ihm bevorzugten Synthesizers „Juno-60“, zu verschalten.

Adieu, ihr Balladen

Sein neues Werk ist zugleich das bisher zugänglichste und abstrakteste des in Brooklyn lebenden Musikers mit russischen Wurzeln und damit auch eine deutliche Abkehr von den Vorgängeralben. Adieu, ihr schönen, wabernden Synthieballaden aus dem Debüt „Betrayed In The Octagon“, die jeden Blick aus dem Fenster zur existenzialistischen Geste überhöhten. Adieu, ihr unterkühlt-digitalen Am­bient-­Abstraktionen des 2013er-Werks „R plus Seven“. Hallo Anarchie!

Ob das mit absurdem Trashvideo daherkommende „I bite through it“, die Digital-Black-Metal-Hymne „SDFK“ oder das opernhafte, in zwei Akte geteilte „Freaky Eyes“ mit seiner Unentschlossenheit zwischen Aggression und Entspannung: Die zwölf Stücke gleichen mit ihren abrupten Wechseln zwischen Tempo, Stimmung, Rhythmus und Melodie eher kompositorischen Achterbahnfahrten als Songs.

Dass viele der Tracks nach technoid gebrochener, aus der Sicht eines von unerfüllten Sehnsüchten heimgesuchten Teenagers geschriebener Rockmusik klingt, liegt auch daran, dass Lopatin in letztem Jahr mit zwei der legendärsten Rockbands der neunziger Jahre auf US-Tour war: Nine Inch Nails und Soundgarden. Eine Erfahrung, die Lopatin, wie er in Interviews gern erzählt, sehr geprägt hat. Das glaubt man ihm gern – steht doch seine sphärische, vielfach beatlose Musik den beiden Rockbands nicht nur musikalisch, sondern auch in performativer Hinsicht diametral gegenüber.

Doch hier geht es weniger um Vergangenheitsverklärung. Im Gegenteil: „Garden of Delete“ operiert an der Speerspitze des Jetzt wie kaum ein zweites Popmusikalbum in diesem musikalisch hochinteressanten Jahr. Neben den aktuellen Alben von Künstlerinnen wie Björk oder Grimes ist es damit auch das beste Gegenbeispiel für all diejenigen, die Pop eine Fähigkeit absprechen, die kulturellen Eigenheiten des Zeitgeistes auch musikimmanent abzubilden.

„Garden of Delete“ steht dafür, dass Pop den Zeitgeist auch musikimmanent abbilden kann

Denn mit all den unerwarteten Wendungen und Brüchen erinnert die Musik an den faszinierenden Wahnsinn von Internethypes, die nach dem nächsten Klick wieder verschwunden sind und für die verkümmernden Aufmerksamkeitsspannen stehen. Dennoch fordern die Songs, die sich auch als akustische Gif-Dateien – im Internet kursierende Videoloops kurzer Filmszenen – bezeichnen ließen, die Wahrnehmung radikal heraus.

Frei nach dem Brecht’schen Verfremdungseffekt ist den Stücken oft ihre Gemachtheit anzuhören. Hallräume, die Klänge üblicherweise zusammenkleben und in eine Illusion einer einzigen Klangquelle verwandeln, werden abrupt ein- und ausgeschaltet, vermeintlich fließende Strukturen werden gnadenlos ausgetrocknet. So stolpert man etwa in „Ezra“ immer wieder in einen Abgrund, wenn das Zupfen der Gitarre einfach abbricht, gefolgt von einer Mini-Symphonie aus abgehackten synthetischen Stimmen und überdrehten Synthesizer-Arpeggios, also Akkorden, deren Einzeltöne nicht gleichzeitig, sondern in schneller Folge nacheinander erklingen.

Merkwürdige Erschöpfung

Auch live ist dieser postmoderne Soundtrack zur Reizüberflutung das Gegenteil von Affektbehaglichkeit. So trat beim restlos ausverkauften Konzert im Berghain, bei dem Lopatin von einem Gitarristen und Videos aus abstrakten Formen und abseitigen Trashfilmen unterstützt wurde, eine merkwürdige Erschöpfung ein. Ein Zustand zwischen Entspannung, Unzufriedenheit und Rastlosigkeit, ähnlich wie beim Durch­scrollen der Facebook-Timeline, wenn man sich nicht zwischen Lachen und Weinen entscheiden kann. Das ist auch nicht nötig, denn Verzweiflung und Behaglichkeit passen gut zusammen und auch perfekt in unsere Zeit.

Oneohtrix Point Never:„­Garden of Delete“ (Warp/Rough Trade)

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